Credo et intellego

 • Atheistismus und Gottesglaube •

 • Der ursachenlose Schöpfer
als Erschaffer von Raum und Zeit •

Ex porticibus sapientiae:

 • Interview mit einem intelligenten Atheisten •

E&E 22 S.2-13 2017 
Ulrich Terlinden

Atheistismus und Gottesglaube

Leibnizens Frage

„Es gibt wahrscheinlich keinen Gott, also machen Sie sich keine Sorgen mehr, und genießen Sie Ihr Leben.“ Um diese Botschaft auf Werbeflächen zu verkündigen, haben 2009 Atheisten viel Geld ausgegeben. Die einfache Rückfrage „Woher wißt ihr das?“ macht deren religiösen Impetus deutlich.
Seit dem Beginn der Aufklärung ist die Erkenntnis des Menschen über die Zusammenhänge und Gesetze des Universums in atemberaubendem Maße fortgeschritten. Die moderne Naturwissenschaft hat die Welt, wie wir sie wahrnehmen können, gut erklärt. Sie hat Irrtümer aufgeklärt, Aberglauben vertrieben, das Vertrauen des Menschen in seinen Verstand gefördert und immer mehr Licht der Erkenntnis in bis dato dunkle Geheimnisse gebracht. Man glaubt inzwischen sogar, die Entstehung der Elemente, des Lebens und auch des menschlichen Geistes naturwissenschaftlich und ohne Gott erklären zu können.
Dann aber stößt die naturwissenschaftliche Erkenntnis an eine Grenze, nämlich die Frage des Gottfried Wilhelm Leibniz, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts1. Schon die Urknalltheorie erklärt die Existenz des Universums nicht. Woher ist das gekommen, was da geknallt haben soll, und warum hat es geknallt?2 Die These, daß das Universum sich, anfang- und endlos, von Urknall zu Urknall zyklisch ausdehne und wieder implodiere, beantwortet der Frage nach Herkunft und Ursache ebenfalls nicht. Auch die jüngere Theorie, daß die Materie aus einer Vakuumschwankung entstanden sei, erscheint nur auf den ersten Blick reizvoll, denn ein „Nichts“ (Vakuum), das schwanken kann, ist ja nicht nichts3. Wieder sind wir bei Leibnizens Frage.
Der Atheismus, der die Naturwissenschaft zu seiner einzigen Erkenntnisquelle erhebt, ist also ein Glaube: Er glaubt, daß es Gott nicht gibt und auch sonst nichts außerhalb des selbstgesetzten Bezugsystems der physikalischen Meßbarkeit. Beweisen oder auch nur belegen kann er es nicht, weil er ja für die Wahrnehmung oder auch nur Postulierung des Jenseits kein Instrumentarium hat oder anerkennt.

Gott als Ursache

Der Gottgläubige nennt Gott den Grund allen Seins. Das erklärt die Existenz der Welt besser als der Atheismus: Gott, reiner, allmächtiger Geist, sei die Ursache von allem, ewig und selbst ohne Ursache; er allein sei fähig, aus nichts etwas zu schaffen. Gott „denke“ die Welt sozusagen unentwegt, deshalb nur existiere sie. Und der Mensch als Gottes Ebenbild (u. a. durch seinen Verstand) sei in der Lage, die Existenz eines Schöpfers aus der Beobachtung der Natur heraus zu erkennen. Schon der Apostel Paulus ist überzeugt: „Seit Erschaffung der Welt wird nämlich seine (sc. Gottes) Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit“ (Röm. 1, 20).
Schon vom Augenschein her kann man sich bei einem wachen Blick auf die Schöpfung nicht vorstellen, daß das alles ohne Letzt-Ursache und Geist aus zufälligen physikalisch-chemischen Reaktionen hervorgegangen sein könnte. Der Mensch erkennt in der Betrachtung der Welt mit seiner Vernunft Gesetzmäßigkeiten und Analogien in den Formen und Kräften: Er sieht, daß es zwischen seinem „ordnenden“ Denken und der Ordnung der Welt einen Bezug gibt. Die Welt und sein Geist sprechen gewissermaßen die gleiche Sprache. Daraus zu schließen, daß beides einem alles ordnenden Geist und Willen entspringt, ist keinesfalls abstrus, eher vernünftig.
Hinzu kommt die Schönheit, die den Menschen erfreut und ihm den Eindruck vermittelt, Teil eines „Kosmos“ und nicht eines Zufallsprodukts zu sein. Man denke an Kants berühmten Satz, daß neben dem moralischen Gesetz in ihm „der bestirnte Himmel über mir“ ihm „das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht (erfüllt), je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt.“4

Gott ist nicht beweisbar5

Aber auch das Empfinden von Sinn und Schönheit könnte ja nur Produkt einer geistlosen, ungeschaffenen Evolution sein. Die guten Argumente für die Existenz Gottes, nämlich daß es überhaupt etwas gibt und daß der Mensch durch seinen Geist den „Sinn“ der Schöpfung und dadurch den Schöpfer erkennen kann, beweisen dessen Existenz nicht im naturwissenschaftlichen Sinne. Wer an Gott glauben will, findet gute Gründe. Wer nicht glauben will, kann durch diese nicht zwingend überzeugt werden. Schon die bekannten „Gottesbeweise“ mit Argumenten der Vernunft von Anselm von Canterbury bis Robert Spaemann haben nicht zu nennenswerten Zahlen an Bekehrungen geführt. Sie sind gute Argumente, könnten aber auch gedankliche Produkte, letztlich chemisch-elektrische Prozesse in den aus den vielen Zufällen der Evolution entstandenen Menschenhirnen sein, die darin durchaus Bemerkenswertes hervorgebracht haben, aber leider irren, da sie der Täuschung eines Weltengrund und -sinns unterliegen, den es nicht gibt.

Fragen der Gottgläubigen

Wer an Gott glaubt, muß sich Fragen stellen, z.B. warum es Gott gibt (nicht beantwortbar), warum Lebewesen leiden (müssen), ob Gott oder die Schöpfung vielleicht gar nicht gut sind, wozu Gott Milliarden und Abermilliarden von Menschen erschafft und wie man sich so eine ewige Seligkeit bei ihm vorstellen kann – und wenn man es nicht darf, warum nicht, wenn doch die Vernunft ein Mittel der Gotteserkenntnis ist. Die große Frage ist schließlich die, ob der Gottesglaube vielleicht eine Selbsttäuschung sei. Das ist der „Stachel im Geist“ des modernen Menschen. Diese Bedenken wiegen so schwer, daß es schon guter Gründe bedarf, sich für den Glauben an Gott zu entscheiden.
Wir werden heutzutage diese Entscheidung aufgrund unserer Erfahrungen treffen. Die Erfahrung aber ist diffus: „Es gibt genug Licht für die, die sehen wollen, und genug Finsternis für die, die gegensätzlich veranlagt sind.“6 Auch Gottgläubige erfahren das „Schweigen Gottes“, auch Atheisten kennen „Heiliges“.
Beim Nachdenken über Gottes Existenz werden die meisten wahrscheinlich gläubig und ungläubig zugleich sein. Es geht hier auch nicht um einen Kampf mit Argumenten für den Gottesglauben. Gott kann schon ganz gut selbst für seine Sache Sorgen. (Er bevorzugt freilich statt des Gefechts das Säuseln – vgl. I. Kön. 19, 12). Es geht vielmehr – in allem Respekt vor Anders- und Nichtgläubigen und im Bewußtsein des „Unglaubens in mir“ (vgl. Mk. 9, 24) – um die Darlegung einiger Überlegungen, die zu Denken und Gespräch anregen wollen. Hierbei gelte das Wort Winfried Nonhoffs: „Wer Gott einfachhin loswerden will, macht sich wahrscheinlich die Sache zu einfach. Wer Gott nur unangefochten retten will, könnte einer lebensgefährlichen Illusion aufsitzen.“7

Argumente für den Gottesglauben

Seit es Menschen gibt, sind sie religiös: Im Unterschied zu Tieren bestatten sie ihre Toten, beten in irgendeiner Weise und deuten ihr Leben (im Zusammenhang mit einem Jenseits). Die Religiosität, die den Menschen augenscheinlich von den anderen Lebewesen unterscheidet, könnte aber auch eine „Fehlkonstruktion“ der blinden Evolution sein.
Zu dem urreligiösen und allgemein-menschlichen Glauben treten Erfahrungen des Jenseits. Vielleicht standen Träume8 von Verstorbenen am Anfang, dann Erlebnisse von wunderbaren Rettungen aus Notlagen, Erhörungen von Gebeten u.a.m. Im Laufe der Menschheitsgeschichte treten dann Personen auf den Plan, die glauben, von Gott persönlich angesprochen worden zu sein. Im jüdisch-christlichen Bereich ist Abraham als erster zu nennen. Er verläßt in hohem Alter auf Gottes Ruf hin seine Heimat. Ihm wird Segen verheißen und zugesagt, daß er selbst und seine Nachkommen Segen sein würden für alle Menschen (vgl. Gen. 12, 1-9). Abraham vertraut auf diese Gotteserfahrung, und sein Vertrauen wird nicht enttäuscht. Er tut auf Gottes Ruf hin etwas für seine Zeit und Kultur Abwegiges, verläßt seine Heimat und erfährt, daß dieser Gott treu ist – also wirklich existiert, spricht und segnend handelt.
Ähnliche Erfahrung haben unzählige Menschen gemacht. Das könnte immer noch eine Kombination aus Zufall und Psychose sein. Aber immerhin berichten durchaus vernünftige und gesunde Menschen bis heute von Gotteserfahrungen – weniger in unmittelbaren Jenseitserfahrungen wie Visionen u.ä., mehr in Momenten unerwarteter Tröstung und Stärkung, auch solchen der Heilung und Rettung.
Daß der Mensch nach einem alles tragenden, göttlichen Sinn sucht und ihn nicht zuletzt in Vernunft und Schönheit findet, ist zwar ebenfalls kein zwingendes Argument für den Gottesglauben, aber es hilft (zunächst einmal), zu leben und nicht in der Kälte eines geistlosen Alls zu erfrieren. Darüber hinaus sind solche Sinnerfahrungen, wenn es denn Gott gibt, eine Bestätigung für den Glauben an ihn, mit dem viele Menschen das Leben gut bewältigen können, da er „für sie“ wirklich ist und handelt.
Die Frage, ob Gott „objektiv“ existiert, bleibt aber immer noch offen und der persönlichen Entscheidung des einzelnen überlassen, die sich nach den Lebenserfahrungen ausrichten wird. Als objektive Tatsache ist zu verzeichnen, daß Gott für viele glaubwürdige Zeitgenossen eine „subjektive“ Realität ist: Vieles spricht also „erfahrungsgemäß“ für seine Existenz. Und das ist nicht wenig.

Argumente für den christlichen Glauben

Gibt es über die philosophischen Gottesbeweise hinaus „objektive“ Beweise dafür, daß Gott existiert? Es müßte schon etwas Handfestes, Sinnliches und von allen Wahrnehmbares sein. Davon berichten die Jünger Jesu von Nazareth: „Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben vom Wort des Lebens – das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist – , was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch... Wir haben gesehen und bezeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat als den Retter der Welt“ (I. Joh. 1, 1-3; 4, 14). Aus der Begegnung mit einem Menschen, der behauptete, der Sohn Gottes und mit diesem eins zu sein (vgl. Mt. 16, 16f.; Joh. 10, 30), kommen diese Zeugen zu dem Schluß, daß Gott sich ihnen als Mensch gezeigt hat. Seine Wunder und vor allem seine Auferstehung haben sie überzeugt: „Wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben“ (Apg. 4, 20). Hier ist der moderne Mensch gefragt, wie er sich zu solchen Zeugnissen verhält.
Auch nach Auferstehung und Himmelfahrt Jesu machen Menschen v. a. im Raum der Kirche solche unmittelbaren Erfahrungen in Wunderheilungen, Erscheinungen u.a.m. Viele von ihnen sind in ihrer naturwissenschaftlichen Unerklärbarkeit belegt. Das Muschelseidentuch von Manopello, das Bild von Guadalupe, die Erscheinungen und Heilungen in Lourdes seien als prominente, bleibende Beispiele genannt9.
Diese objektiven Phänomene von Jenseits-Diesseits-Berührungen unterscheiden das Christentum von den anderen Religionen und heben es für die moderne Welt in die Sphäre der wissenschaftlichen Seriosität. Subjektive Gotteserfahrungen (ob echt oder nicht) gibt es auch in anderen Religionen, auch Heilungen u.ä. Ob es bei ihnen auch so etwas „objektiv“ und dauerhaft Unerklärliches wie das Genannte gibt, entzieht sich der Kenntnis des Autors. Entscheidend ist, daß die genannten Phänomene dem abendländisch-rationalen Zeitgenossen objektive Belege für das christliche Evangelium bieten. Denn sie alle sind Menschen zuteil worden, die an Christus als den Sohn Gottes geglaubt haben oder durch sie zu diesem Glauben geführt worden sind.

Drei Arten der Glaubensvermeidungen

Das „orthodoxe“ Christentum10, also die Kirchen, die den apostolischen Glauben bekennen, wie er im nizänokonstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis formuliert ist (Christus ist eines Wesens mit dem Vater, Gott von Gott, und Mensch geworden), kennzeichnet die apostolische Sukzession und die sieben Sakramente mit einer häufigen Eucharistiepraxis. Diese beiden Kennzeichen (ununterbrochene Folge von Handauflegungen zur Weihe als leibliche Verbindung mit Christus und den Aposteln im Abendmahlssaal und leibliche Berührungen mit dem Auferstandenen in wirkmächtigen Heilszeichen) sind Folgen und zugleich Bekenntnis der Menschwerdung Gottes. Wie die blutflüssige Frau („Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.“ – Mt. 9, 21) glauben diese Christen, Jesus in den Sakramenten und Sakramentalien heilsam berühren zu können. In diesen setzt sich die „Fleischwerdung des Wortes“ fort (Vgl. Joh. 1, 14).
Dieser „Orthodoxie“ begegnen heute neben dem „harten Atheismus“ in der westlichen Welt im wesentlichen drei Versuche, den Glauben an Gott oder wenigstens an Christus als den Sohn Gottes zu vermeiden. Der Leser sehe es dem Verfasser nach, wenn er diese zugespitzt skizziert:

1. (Neo-)Arianismus11

Die (Neo-)Arianer sagen: Es gibt Gott. Christus aber ist nicht Gott. Laßt uns gute Menschen sein wie er!
Der Arianismus entkernt das Evangelium: In Christus habe Gott nicht etwa unser menschliches Fleisch angenommen und sei darin gestorben; Christus sei vielmehr ganz einer von uns gewesen. In ihm sei nichts Göttliches gewesen – oder nur so viel Göttliches wie in uns allen. Er sei zwar zum Vorbild und Menschheitslehrer besonders auserwählt und gesegnet gewesen, besonders gut und weise, aber er sei gestorben wie wir und (leiblich) im Grab geblieben. Alles Göttliche an ihm, seine Wunder, sein Sühnetod und seine Auferstehung, sei nachträgliche Erfindung, um die Besonderheit dieses Menschen zu betonen. Der Arianismus drängt den menschgewordenen Gott sozusagen wieder zurück in das Jenseits.
Nach der Verurteilung der arianischen Lehre lebte diese in abgemilderter Form in orientalischen Kirchen fort. Der Islam ist mit dem Arianismus verwandt. Der vor allem nichtlutherische Protestantismus in seiner Zeichenarmut und praktischen Sakramentslosigkeit steht dem Arianismus nahe, da die Menschwerdung Gottes zwar anerkannt wird, seit seiner Himmelfahrt aber zu einer reinen Glaubenserkenntnis (Erlösungsgewißheit) geronnen und sonst folgenlos ist12.
Der arianische Glaube findet heutzutage bei großen Teilen der abendländischen Christen (unbewußt) Zuspruch, da er die „skandalösen“ Zumutungen des „orthodoxen“ Christentums eliminiert. Es wird Abstand gewonnen zum unzumutbar empfundenen Bild eines Gottes, der einem durch seine Menschwerdung doch etwas penetrant nahe gerückt ist, durch Wunder seine Allmacht auch über die Naturgesetze gezeigt und durch ein unappetitliches Selbstopfer die als unnötig angesehene Versöhnung der Menschheit gewirkt haben will. Göttliche Erlösung, Sühneopfer, Wunder und leibliche Auferstehung werden zurückgewiesen. Jesus wird auf seine moralischen Lehren und Taten reduziert. (Neo-)Arianer sehen daher in den Sakramenten nicht mehr als gesinnungs- und gemeinschaftsstärkende Erinnerungszeichen im Dienste der Humanität.

2. Agnostizismus

Die Agnostiker sagen: Wir können nicht wissen, ob es Gott gibt. Laßt uns gute Menschen sein!
Die Botschaft der Agnostiker ist von Lessings Ringparabel über die Freimaurerei bis zu Verfechtern einer „interreligiösen Ökumene“: „Wir können nicht erkennen, ob es Gott gibt. Der Streit um den richtigen Glauben hat schon zu vielen Kriegen geführt. Es scheint besser zu sein, die Frage nach Gott nicht zu stellen. Religion sollte, wie alle Erfahrung zeigt, Privatsache bleiben und ist – unter uns gesagt – doch eher etwas für unaufgeklärte ältere Damen und psychisch labile Mauerblümchen ...“

3. Irrelevantismus13

Die Irrelevantisten sagen: Die Frage nach Gott interessiert uns nicht. Laßt uns in Ruhe!
Den meisten Menschen in der „westlichen Welt“ scheint die Gottesfrage irrelevant und darum gleichgültig zu sein. Gott spielt für ihr Leben keine Rolle, außer vielleicht als ein Mittel unter vielen, auf das man in Notlagen zurückgreifen und danach ohne Konsequenzen weiterleben kann. Sie leben ganz im Diesseits und kommen damit gut klar: Sie vermissen das Jenseits nicht, hätten aber auch nichts dagegen, in den Himmel zu kommen. Der Gedanke an den Tod beunruhigt sie nicht, da sie ihn verdrängen.

Aufrichtig glauben heute

Was heute in Glaubenssachen bleibt, ist die Entscheidung. Die meisten Menschen und auch Christen in der „aufgeklärten“ Welt werden nicht vom göttlichen Geheimnis überwältigt und erfahren die Wechselfälle des Lebens auch nicht als eindeutig von Gott gelenkt. Unser naturwissenschaftlich und psychologisch geschulter Geist wehrt sich gegen eine unkritische „Vereinnahmung von oben“. Auch dies ist übrigens eine Frucht der im letzten christlich geprägten Weltsicht der Aufklärung und sollte daher eher geschätzt als verurteilt werden. Wir kommen aufrichtigerweise dennoch nicht umhin, uns den Gotteserfahrungen der Alten, den Zeugnissen der Zeitgenossen Christi, den objektiv nachprüfbaren übernatürlichen Phänomenen der Kirchengeschichte und den persönlich-subjektiven Sinnerfahrungen zu stellen.
Man kann das schulterzuckend abtun und denken: Was hat das mit mir zu tun? Was ist damit gewonnen? Man verweigert so an irgendeiner Stelle das Weiterdenken. Man kann es aber auch wagen, wird dabei Zweifel behalten, die ja nach alter Tradition für einen echten Glauben unerläßlich sind, und steht dann irgendwann vor der Entscheidung, die Knie zu beugen und die Erfahrung Gottes zu suchen und zuzulassen oder eben nicht.
Besonders „tapfere“ Vertreter der atheistischen wie der gottgläubigen „Seite“ werden ihr Ringen auch als etwas Inneres zu sehen lernen müssen. Für sie kann es hilfreich sein, sich zu fragen, welchen Gott (welches Gottesbild) sie eigentlich bekämpfen oder verteidigen und warum.
Von den Zeugnissen, Argumenten und übernatürlichen Phänomenen ist der Schritt ins Empirische und Existentielle zu tun: Christus spricht zum Mann mit der verdorrten Hand, bevor er ihn heilt: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“ (Mk, 3, 3). Der Mensch und sein Heil sind entscheidend für den Glauben. Sich bloß einem höheren Wesen zu unterwerfen oder Dogmen unkritisch zu übernehmen, ist rationalen Wesen nicht zuzumuten und modernen Menschen nicht zu vermitteln. Soll der Glaube für den Menschen wertvoll und lebbar sein, muß er sich als für ihn heilsrelevant erweisen. Er muß etwas Gutes davon haben. Dieses Gute ist letztlich immer der Gute, Gott selbst. Was heißt das aber konkret im Leben? Es wird letztlich immer etwas erfahrbar Lebendiges, Heilsames und Lebendigmachendes sein (müssen).

Epilog

Der in kommunistischer Zeit im Untergrund zum Priester geweihte Tomáš Halík, Professor für Soziologie an der Prager Karlsuniversität, schreibt in einer Betrachtung von Nietzsches „Rede eines tollen Menschen“: „Erst am Ende der Erzählung provoziert der tolle Mensch nach den konventionellen Atheisten auch konventionelle Gläubige, die nicht wissen, daß ihre Kirchen nur Grüfte und Grabmäler eines toten Gottes sind. Vielleicht ähneln sich diese beiden Gruppen von selbstsicheren Menschen – denn die selbstsicheren Ungläubigen, aber auch die selbstsicheren Gläubigen suchen Gott nicht“14. Dann zitiert er aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“: „Oh Zarathustra, du bist frömmer, also du glaubst, mit einem solchen Unglauben! Irgendein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit. Ist es nicht deine Frömmigkeit selber, die dich nicht mehr an einen Gott glauben läßt?“ und fährt später fort: „Sucht vielleicht Nietzsche, dieser weise Verrückte und törichte Weise, der &bsquo;Frommste unter den Gottlosen‘, nach dem Tod des alten Gottes einen solchen Gott, der nicht verbindet, sondern löst, der den Menschen zu Mut, zu schöpferischer Kraft und Verantwortung befreit? (...) Er sehnte sich nach einem Gott, der der Ganzheit der Wirklichkeit gerecht würde, den Paradoxien des Lebens, nicht nur der begreiflichen Welt des Tages, sondern auch ihrer dunklen und tragischen Seite“15.

1 „Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?“ (Prinzipien der Natur und der Gnade n. 7)
2 Oder nicht geknallt? Der Teilchenphysiker und Buchautor Brian Greene über ... Spiegel-Gespräch: „Warum ist nicht nichts?“ Von Johann Grolle. Der Spiegel 39/2004, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32205256.html; Zugriff am 16. 1. 2018
3 Der Physiker Lawrence Krauss stellt in seinem Buch „Ein Universum aus dem Nichts“ die Theorie auf, daß ein absolutes Vakuum virtuelle Teilchen enthalte (http://www.tagesspiegel.de/wissen/vor-dem-urknall-wie-kann-das-universum-aus-dem-nichts-entstehen/11179340.html – Zugriff am 22. 1 2018), und verschiebt damit nur die Frage nach dem Ursprung. – Ein Lehrer des Verfassers dieses Textes sagte einmal: „Die dürfen sich das Nichts nicht als Etwas vorstellen, sondern als nichts.“
4 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, 1788. Beschluß
5 Das ist er freilich nach kirchlicher Lehre und biblischem Befund: „Ratiocinatio Dei existentiam, animae spiritualitatem, hominis libertatem cum certitudine probare potest.“ (Decr. S. Cgr. Indicis, 11. (15.) Iun. 1855, Theses contra traditionalismum Augustini Bonnetty, 2.); „Sancta Mater Ecclesia tenet et docet, Deum, rerum omnium principium et finem, naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse.“ (I. Vaticanum, Constitutio dogmatica de fide catholica, cap.2: De revelatione; KKK. 36); Weish. 13, 1-9; Röm. 1, 18-20. Der Verfasser trägt aber hier Gedanken vor, die im Diskurs mit denen gelten könnten, die die kirchlich-biblische Lehre nicht akzeptieren.
6 Blaise Pascal: Pensées
7 Winfried Nonhoff: Vorwort: Von Gott verlassen? in: A. Grün, T. Halík, W. Nonhoff: Gott los werden. Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen. Münsterschwarzach 2016, S. 9
8 Vgl. auch den Traum Jakobs von der Himmelsleiter Gen. 28: Der Ort galt durch den Traum als Haus Gottes, der Stein, auf dem Jakobs Kopf lag, als er träumte, wurde zum Altar (Ort der Jenseits-Diesseits-Berührung)
9 Ausführlicher zu diesen Wundern: U.T.: Wunder – Wahrheit – Wirklichkeit. E&E 20, 2015, S. 7-26
10 Das sind die Römisch-Katholische, dann aber auch die verschiedenen Orthodoxen Kirchen und mit Einschränkungen auch einige Gemeinschaften der Reformation.
11 Der Priester Arius (um 260-336) lehrte, daß Jesus nur ein besonders von Gott begabter Mensch gewesen sei. Seine Natur war ganz und ausschließlich menschlich; er war nicht Gottes Sohn, hatte keine göttliche Natur. Seine Lehre wurde 325 auf dem ersten Konzil von Nizäa verurteilt, das auch erklärte, daß Vater und Sohn „homousios“ = wesensgleich seien.
12 Die (nichtlutherisch) protestantische Sicht auf die Menschwerdung Christi wäre dann in etwa dieses: Gott ist in Christus „nur einmal kurz“ auf der Erde gewesen, um das einmalige Sühneopfer zu vollbringen. Seitdem ist er wieder im Himmel, und es kommt seit dem nur noch auf den Glauben an – bzw. eine hoffentlich günstige Prädestination. Eine neutestamentliche, vom Alten Bund qualitativ verschiedene Anwesenheit Gottes (v. a. in den Sakramenten) gäbe es nach der Himmelfahrt Jesu nicht.
13 Oder „Apatheismus“ – so TomᨠHalík: Der tote Gott. Die Rede des tollen Menschen, Prolog. in: A. Grün, T. Halík, W. Nonhoff: Gott los werden, S. 20
14 Tomáš Halík, Prolog: Der tote Gott. Die Rede des tollen Menschen, S. 13
15 ebd. 16f.

Orietur Occidens

E&E 22 S.13-30 2017 
Manuel Albert Friedemann

Tempus fugit
Der ursachenlose Schöpfer als Erschaffer von Raum und Zeit

Vom Kreationismus als Menschenwerk

Sie konnte nicht vergehen, die Zeit jüngster Jahrzehnte, ohne die Herausgabe eines populärwissenschaftlichen Machwerks mit sich führen zu müssen, das suggerierte, Gott habe die Welt vor wenigen Tausend Jahren erschaffen, Dinosaurier hätten zeitgleich mit den Menschen gelebt oder die Evolutionstheorie sei das unausgegorene Stückwerk ausgewiesener Antichristen. Im „Creation Museum“ in Petersburg, Kentucky, wird den Besuchern gar die ganze Fülle an kreationistischer Weltsicht präsentiert. Hier wird umständlich versucht, die Gesetzmäßigkeiten der Lichtgeschwindigkeit nach Gutdünken zu umgehen, um im museumseigenen Planetarium Objekte zu erklären, die Millionen von Lichtjahren und damit ebenso viele Jahre von uns entfernt liegen. Dort beobachtet eine Vegetarier-Tyrannosaurus Adam und Eva beim Bad und werden „Missing Links“ als Widerlegung sämtlicher evolutionärer Vorgänge und der Genetik als Ganzen herangezogen.
So grotesk dies und vieles mehr auch klingen mag, die Apologeten dieser Strömung – Kreationisten, oder Intelligent Design-Anhänger genannt – berufen sich fortwährend auf Fragmente verschiedener Wissenschaftszweige. Viele der angesprochenen Behauptungen und deren noch mehr stützen sich auf die Annahme, die C14-Messung (Radiokarbonmethode) sei aufgrund stark veränderlicher Umweltfaktoren sehr unzuverlässig. Bei dieser Methode zur Bestimmung des Alters eines zumeist organischen Fossils wird der Zerfall der radioaktiven Kohlenstoff-Isotope (C14) gemessen. Dass sich etwaige Ungenauigkeiten im unteren einstelligen Prozentbereich bewegen und Schwankungen im C14-Gehalt der Atmosphäre auch durch andere gut erfaßbare Evidenzen bekannt sind, wird hierbei geflissentlich ignoriert oder gar ganz bestritten. So kann ein archäologisches Fundstück, welches auf circa 55.000 Jahre datiert wurde, gut und gern nur 53.000 Jahre alt sein. Logisch und wissenschaftlich unhaltbar wäre die Behauptung, daß es jedoch lediglich aus der frühen Bronzezeit stammen sollte – um in die wörtlich (un)verstandene Schöpfungsgeschichte zu passen. Nur weil eine Methodik oftmals mit einer gewissen Fehlertoleranz verbunden ist, heißt das noch lange nicht, daß diese quasi unendlich hoch sein kann, wenn es gerade passend erscheinen mag, etwas Derartiges zu behaupten. Selbst Fehlertoleranzen folgen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Sie derart zu verallgemeinern ist unseriös.
Als methodisch oder gar logisch begründbar kann man dieses Gedankensystem wahrlich nicht bezeichnen. Wie sollten diesem Anspruch die Thesen der sogenannten Kreationisten auch genügen, wird doch immer wieder gegen die Grundregel wissenschaftlicher Empirie verstoßen – die Theorie muß den vorliegenden klar ersichtlichen Daten angepaßt werden. Auch als Logismus a priori kann man nur wenige dieser Thesen gelten lassen, denn auch das erfordert ergebnisoffene Denkarbeit. Ziel der Kreationisten scheint es zu sein, die in unseren allzu menschlichen Worten wörtlich verstandene Schöpfungsgeschichte der Genesis mit Naturwissenschaft auf Biegen und Brechen in Einklang zu bringen. Diesem vermeintlichen Einklang wird nur leider jedes empirische, deduktive und induktive Prinzip geopfert; eben jene wesentlichen Grundlagen von Wissenschaft und Philosophie, die Denkarbeit sowie praktische Experimente erst möglich und zielführend machen. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden hier bestenfalls selektiv in Anspruch genommen um sie in die bestehenden Postulate des Kreationismus einzubinden.
An dieser Stelle soll der Begriff „Kreationismus“ unter die Lupe genommen werden. Dieser vom lateinischen „creatio“ stammende Begriff bezeichnet im eigentlichen Wortsinn die „Lehre von der Schöpfung“. An sich eine rühmliche und für Christen, Muslime und Juden auch verbindliche Sache. Wohl kaum ein Christ wird der Annahme abhold sein, Gott sei die Ursache des Universums, also Schöpfer desselben und aller darin vorkommenden Geschöpfe. Nur: Wie verhält es sich wiederum mit der aus dem Griechischen stammenden Endung „-ismus“? Freilich ist dieses kleine Suffix für vieles zu gebrauchen. Häufig wird es interpretiert als Synonym für eine spezielle Lehre, politische Orientierung oder eine philosophische Strömung, so wie bei Katabolismus, Liberalismus oder Historizismus. Auch findet es sich in einem quasi wertenden Begriff wieder: wie Dilettantismus, wenn zum Exempel ein naturwissenschaftlich geschulter Autor sich allzu sehr im Linguistischen zu verlieren droht. Sei es drum. Im vorliegenden Sachverhalt impliziert es eine Lehre oder auch ein Dogma, dem sich alle Fakten unterzuordnen haben.
Von der Vorstellung der Kreationisten, Gott hätte uns zwar Vernunft und die Fähigkeit zum logischen Denken gegeben, verlange aber unsere Mißachtung dieser Begabung, falls wir im Konflikt mit vorgefaßten Dogmen stehen, möchte sich der Autor ausdrücklich distanzieren. Liegt hier nicht gerade im erweiterten Kontext ein Fall vor, den Paulus in seinem ersten Brief an die Thessalonicher gemeint haben könnte, wenn er sagt: „Prüft alles, und behaltet das Gute!“ (I. Thess. 5,21 EÜ)?
Bei all diesen Versuchen, die Genesis in ein für uns Menschen allgemeinverständliches naturwissenschaftliches Gerüst zu integrieren übersieht man doch diejenigen Möglichkeiten, welche die moderne Naturwissenschaft tatsächlich bietet, um Gott im Rahmen des eigenen Verstandes näherungsweise zu erfassen. Die Forschungen im Bereich der theoretischen Physik und Astronomie haben im letzten Säkulum beachtliche Einsichten in die uns umgebende Realität ermöglicht und auch eine Vorstellung dessen vermittelt, welche Prozesse außerhalb unserer Alltagswahrnehmung ablaufen. So wollen wir einmal den Versuch wagen, die Fragen nach der Zeit vor dem Urknall und der Ursache des Schöpfers aus physikalischer Sicht zu beleuchten, anstatt uns mit vegetarischen Dinosauriern und seltsamem Halbwissen abzugeben.
Die Frage nach dem Schöpfer, welcher laut gängigem Logismus doch selbst nicht ursachenlos sein kann, wenn er Universum und uns Menschen selbst als Ursache dient, ist uralt und immer schon Kern aller möglichen philosophischen Debatten. Zu Beginn der biblischen Schöpfungsgeschichte kommt die Sprache auf einen Anfang und in Form der sieben Schöpfungstage auch auf sich bewegende Zeit. Im Anfang unseres Universums schuf Gott Himmel und Erde. Das impliziert: Gott war als dessen Ursache selbstverständlich schon existent. Das Wesen der Zeit zu erleuchten scheint hier aus naturwissenschaftlicher Sicht der notwendige Schritt, um sich der Antwort auf das Problem des ursachenlosen Schöpfers zu nähern. Dabei können wir hoffentlich vermeiden, in die geistigen Fettnäpfchen der Kreationisten zu treten, und bemüht sein, niemals Glaube mit Naturwissenschaft zu verwechseln – in der Annahme, der Glaube an Gottes Allmacht müsse vom Menschen mit empirischen Beweisen erhärtet werden. Wozu wäre dann der Glaube noch nötig?

Von der Relativität der Zeit

Zeit genießt unter uns Menschen als Dimension unseres Alltagserlebens eine absolute Stellung. Einzig unsere subjektive Wahrnehmung läßt die absolute Zeit etwas relativer erscheinen. Langweilen wir uns, scheint die Zeit nicht „vergehen“ zu wollen; sind wir inspiriert, „vergeht“ sie scheinbar im Fluge. Diese differentielle Wahrnehmung des „Vergehens“ von Zeit hängt von rein psychologischen Faktoren ab. Bei für uns anregenden Stimulantien bekommt der Geist viel zu tun, wir haben also keine Zeit um uns über die Zeit Gedanken zu machen. Langweilt man sich allerdings, sind wir vom „Vergehen“ der Zeit förmlich besessen, schauen unablässig auf die Uhr und legen unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Zeit, ohne die Ereignisse zu beachten welche in der Zwischenzeit geschehen. Der Terminus „Vergehen“ weist hier allerdings nur darauf hin, daß Ereignisse, deren Abfolge wir zeitlich erfassen können, ihren Lauf nehmen, und lagen sie doch zuerst in der Zukunft, sind sie nach ihrem Eintreten schon wieder „vergangen“.
« Aber die Physik hat es doch mit der Beschreibung aller Erscheinungsformen zu tun, nicht nur derer, die uns durch den Bewegungssinn, sondern auch derer, die uns durch den Muskelsinn, den Temperatursinn, den Farbensinn usw. vermittelt werden, und dementsprechend sind die fundamentalen physikalischen Begriffe direkt aus den speziellen Sinnesempfindungen abzuleiten. Exakt messen können wir zwar eine Temperatur ebensowenig durch den Temperatursinn wie eine Kraft durch den Muskelsinn oder eine Farbennuance durch den Farbensinn, weil dazu die Schärfe unserer Sinnesempfindungen nicht ausreicht, sondern wir müssen uns zur Erreichung dieses Zweckes nach anderen Erscheinungen umsehen, die erfahrungsgemäß mit den genannten Empfindungen in einem notwendigen Zusammenhang stehen ... » (Planck, Max: Das Prinzip der Erhaltung der Energie. B. G. Teubner Verlag, II. Auflage, Leipzig und Berlin, 1908, S. 171)
Max Planck verstand die Zweckmäßigkeit der Physik darin, allen den menschlichen Sinnen zugänglichen Erscheinungsformen auf den Grund zu gehen, ohne dabei einzelne hiervon prinzipiell zu bevorzugen. Wenn die Zeit und ihr „Vergehen“ als eine Erscheinungsform unserer Wahrnehmung unseren Sinnen zugänglich ist, zählt sie im Sinne Plancks eben zu diesen fundamentalen physikalischen Begriffen. Als sich wenige Jahre später Einsteins Relativitätstheorien langsam durchzusetzen vermochten, wurde klar, daß auch die Erscheinungsform der Zeit durch ihre Relation zu anderen Erscheinungen, die wir sinnlich erfassen können, näher zu beschreiben ist. Wie das oben erwähnte Exempel der relativen Wahrnehmung illustriert hat, sind die zuweilen recht sinnentrückten Eigenschaften der Zeit, mit denen wir uns befassen wollen, deshalb Erscheinungsformen im Sinne Plancks, da sie auf ihre wesentlichen Eigenschaften hin auch auf unsere Alltagserfahrung komprimierbar erscheinen.
Ansonsten scheint Zeit – gerade weil wir sie mittels Uhren zu messen vermögen – ein erstaunlich präzises und sich immer gleichmäßig verhaltendes Phänomen zu sein. Daß die heterogene Wahrnehmung der Zeit einzig auf unseren Geist zurückzuführen ist, scheint uns dabei sehr bewußt. So präzise wie es erscheint, fließt die Zeit allerdings nicht vor sich hin. Ihren Fortgang beeinflussen im Wesentlichen in unserem Universum zweierlei Faktoren: Geschwindigkeit und Gravitation – beide allerdings nur in ihren extremsten Ausprägungen.

Extreme Geschwindigkeit

Begäbe sich einer von zwei eineiigen Zwillingen auf eine Weltraumreise und sein Bruder bliebe auf der Erde, böte sich die einzigartige Möglichkeit, die Relativität der Zeit auf äußerst maßgebliche Weise zu illustrieren. Nehme man zum Zwecke dieses Gedankenexperiments einmal an, der raumfahrende Zwilling reise mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 0,8 c (⅘ der Lichtgeschwindigkeit) zum nächstgelegenen Sternensystem Alpha Centauri. Logischerweise könnte man davon ausgehen, dass eine solche Reise von etwa vier Lichtjahren bei 0,8 c – Abbrems- und Beschleunigungsphasen sind zu ignorieren – circa fünf Jahre pro Strecke, also zehn Jahre bis zur Rückkehr auf die Erde in Anspruch nehmen sollte. Und genau so würde es der irdische Zwilling auch wahrnehmen. Nach zehn Jahren kehrt sein Bruder zurück aus dem All. Subjektiv vielleicht, objektiv ganz gewiß wird beiden Brüdern auffallen, daß sie in den letzten Jahren nicht mehr in temporaler Gleichzeitigkeit existiert haben. Der Uhren- und Kalendervergleich beweist: der raumreisende Bruder ist ganze vier Jahre weniger gealtert – seine Zeitmesser zeigen an, daß nur sechs Jahre seit seinem Aufbruch von der Erde vergangen sind und nicht zehn, wie für seinen irdischen Zwilling.
Dieses Phänomen nennt man Zeitdilatation. Für ein bewegtes Objekt vergeht die Zeit langsamer im Vergleich zu einem unbewegten Objekt. Beide Objekte befinden sich in ihrem jeweils eigenen Inertialsystem. Hier kommt die Einsteinsche Verknüpfung von Raum und Zeit zum Tragen. Es ist unmöglich, den Raum zu manipulieren, ohne die Zeit gleichermaßen zu beeinflussen. Bei einer solch schnellen Reise durch das All geschieht die Manipulation des Raumes, indem mittels eines Raumschiffs eine große Distanz in einer bestimmten Zeit zurücklegt wird. Zu diesem relativistischen Phänomen kommt noch ein weiteres hinzu, welches sich auf die zurückgelegte Wegstrecke bezieht. Denn wenn der raumreisende Zwilling bereits nach sechs Jahren von seinem Abenteuer zurückkehrt – der Abstand zwischen Erde und Alpha Centauri jedoch eine zehnjährige Reise erfordert – hat er offenbar auch weniger Distanz zurückgelegt, als eigentlich nötig schien. So krümmen hohe Geschwindigkeiten nicht nur die Zeit, sondern aufgrund der raumzeitlichen Struktur des Universums auch den Raum, und es kommt zur sogenannten Längenkontraktion. Aus der Sicht des irdischen Bruders ist sein weltraumreisender Bruder also mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit größer als c geflogen. Dies war aus Sicht des Inertialsystems „Raumschiff“ jedoch zu keiner Zeit gegeben. Für sich genommen ist c immer konstant, in Relation zwischen einen bewegten und einem unbewegten Objekt kommt es hier jedoch zu einem subjektiven Paradoxon.
Bereits hier wird klar ersichtlich, daß Objektivität nur in geschlossenen, unbewegten oder gleichförmig beschleunigten Bezugssystemen gegeben sein kann. Zeit vergeht oder „fließt“ innerhalb unserer meßbaren Realität immer, jedoch hängt ihre subjektive Geschwindigkeit von bestimmten Inertialsystemen und ihrer Relation zueinander ab. Extrem hohe Geschwindigkeiten vermögen uns einen Einblick in die Natur der Zeit zu geben, wie sonst nur die extremsten Formen der Anziehungskraft.

Extreme Anziehung

Die Gravitation ist schon ganz allgemein betrachtet ein beachtliches Ding. Bewirkt dieselbe Kraft einerseits, daß sich die Planeten in ihren Umlaufbahnen um die Sonne halten, kann ich sie andererseits mittels der äußerst überschaubaren Kräfte meines Armes doch spielend überwinden, indem ich meinen Federhalter aufhebe. Viele Theoretiker hoffen gar darauf, daß die Gravitation und ihr Trägerteilchen, das Graviton, als der vielversprechendste Kandidat für die vereinheitlichte Feldtheorie, die mathematisch elegante Verknüpfung zwischen den beiden bestimmenden Lehren der theoretischen Physik ermöglichen könnte – von Gravitationslehre und Relativistik auf der einen und Quantentheorie auf der anderen Seite –, eben weil die Gravitation derart leicht die Grenzen zwischen den einzelnen Fundamentalgesetzmäßigkeiten zu überwinden vermag und sich ihre Kraft nach den jeweils vorherrschenden Inertialsystem richtet.
In Bezug auf ihrer Koexistenz mit der Zeit gelingt es der Gravitation ebenso zu verblüffen. Die Faustregel lautet hier: Je näher man sich am Zentrum des massereichsten und damit anziehungsstärksten Objekts im lokalen Raum befindet, desto langsamer fließt die Zeit. Der Dimension unseres Denkens angepaßt kann man diesen Effekt illustrieren, indem man sich den Raum als ein gespanntes Tuch vorstellt, in das eine Kugel gelegt wird. Da der menschliche Verstand sich vierdimensionale Phänomene schwer vorzustellen vermag, ist die Dicke des Tuches zu ignorieren und somit von einer quasi 2+1-dimensionierten Raumzeit auszugehen – der Quintessenz des Gedankenexperiments tut dies keinen Abbruch. Ein gespanntes Tuch wird somit, wenn es durch eine Kugel belastet wird, eine Delle bekommen. Soweit scheint unser lokaler Raum des erdnahen Gebiets rekonstruiert. Die Erde krümmt den sie umgebenden Raum somit auf einer bestimmten Ebene. Nun benötigt man noch ein Hilfsmittel, um die sich geradlinig ausbreitende Zeit darzustellen. Da genügt ein Stück Schnur, das auf dem gespannten Tuch plaziert wird. Mißt man die Länge der Schnur vom einen Tuchende zum gegenüberliegenden, wenn sie neben der „Raumdelle“ liegt, gelangt man zum Ausgangswert der Distanz, welche die Zeit in unserem Experiment zurücklegen muß, um vom einen zum anderen Punkt zu gelangen. Verschiebt man nun aber die Schnur und läßt man sie nah zur Mitte des Tuches in die durch die Kugel entstandene Krümmung sinken, ergibt sich eine höhere Gesamtlänge und damit verbunden eine größere Distanz, welche die Zeit zurücklegen muß, um sich auszubreiten. Dieses Phänomen tritt recht deutlich bei der Ausbreitung von Licht zu Tage. Bei der Beobachtung ferner Sterne kommt es zum Exempel zum sogenannten Gravitationslinseneffekt. Hier beobachtet man zuweilen, daß sich ausbreitendes Licht, wie es von einem Stern ausgesendet wird, auf seinem Weg in die Linse der irdischen Teleskope einige Hindernisse zu überwinden hat. Wenngleich sich das Licht auch linear ausbreitet, unterliegt es beim nahen „Vorbeiflug“ an massereichen Objekten einem Effekt, der es zwingt, einen Umweg zu nehmen. So entsteht von der irdischen Perspektive aus betrachtet sowohl eine räumliche Verschiebung zur tatsächlichen Lichtquelle als auch eine fälschlich hoch anzunehmende scheinbare Entfernung. Durch den Linseneffekt des Gravitationsbereiches massereicher Objekte innerhalb der Flugbahn des Lichts erhöht sich auch die Distanz, welche es zurücklegen muß, um eine definierte Strecke zu überwinden. Wenn besagter Gravitationslinseneffekt von Astronomen festgestellt wird, müssen die Meßergebnisse zur Entfernung und zum Ausgangspunkt der Lichtquelle unter Einbeziehung der Größe und Masse des „Störobjekts“ supprimiert werden.
Am krassesten verdeutlicht sich der „zeitbeugende“ Effekt der Gravitation an den extremsten Gravitationsquellen unseres Universums: den sogenannten Singularitäten. Singularitäten kann man als Gebiete der physikalischen Gesetzlosigkeit begreifen, in denen alle ansonsten meßbaren Größen nicht mehr in logische Verhältnisse zueinander zu setzten sind. Der prominenteste Vertreter dieser anarchischen Systeme ist das „Schwarze Loch“. Schwarze Löcher sind zumeist aus Sternen entstanden, welche gegen Ende ihres Lebenszyklus den Großteil ihres Wasserstoffes in Helium fusioniert haben und dann aufgrund des gestiegenen Drucks und extremster Hitze beginnen, die höheren Elemente zu bilden. Wenn dann eine kritische Masse erreicht ist, stößt der Stern die leichten und damit flüchtigeren Element von sich – wir nennen diese Sternenexplosionen Supernovae. Wenn die Supernovae vergehen, entstehen – vorausgesetzt, der Stern hatte eine ausreichend hohe Masse – aus den unter dem enormen Druck implodierten hohen Elementen die Schwarzen Löcher. Diese kann man sich als eine Art extreme Beugung eines relativ begrenzten Bereichs der Raumzeit vorstellen. Eine kleine, aber extrem schwere Kugel hinterläßt, im hypothetischen Tuch unseres obigen Gedankenexperiments, eine viel tiefere, wenn auch weniger ausgedehnte Delle als eine relativ leichte, größere Kugel. Die Krümmung des Raumes, die ein Schwarzes Loch erzeugt ist jedoch so extrem, daß keine Materie, auch nicht in Form von Energie oder Information, diesem noch entkommen kann. Die enormen Gravitationskräfte dieser Art von Singularitäten sorgen dafür, daß selbst Photonen, welche das Licht vermitteln, dem Sog des Giganten nicht entgehen können. Innerhalb unseres Gedankenexperiments vom gespannten Tuch kann man sich nun vorstellen, daß die Delle, welche von einem sehr kleinen und ebenso schweren Objekt erzeugt wird, so tief ist, daß die Schnur, wird sie darübergelegt, im Nu vollständig darin verschwindet. Weshalb entspricht nun das Licht ebenso der Schnur, wie die Zeit es tut? Diese beiden Phänomene sind im beschriebenen Experiment Entsprechungen voneinander, denn das Licht folgt wie alles andere, was sich in unserem Universum fortbewegt, der temporalen Kausalität. Die Photonen des Lichts benötigen einen definierten und nach obenhin begrenzten Zeitraum, um im Raum vom einen Punkt zum nächsten zu gelangen. Dadurch, daß sich Zeit nur in Bezug auf die Abfolge von Ereignissen meßbar machen läßt, ist mit der Fortbewegung der Photonen des Lichts kausal immer auch Zeit, die vergeht, impliziert.
Die wahre Grenzerfahrung folgt aber noch. Der erwiesenen Annahme folgend, daß Zeit durch Gravitationskräfte verlangsamt wird, erreicht dieser Effekt aus der Sicht eines äußeren Betrachters im Gravitationsfeld eines Schwarzen Loches seinen denkbaren Höhepunkt. Zeit und damit alle Abläufe, welche durch sie definiert werden können, verlangsamen sich beim Sturz ins Schwarze Loch, gemäß der vormals erwähnten Zeitdilatation, bis zu einem singulären Punkt, an dem dann der Ablauf der Zeit nicht mehr festzustellen ist: die Zeit steht still. Daß es ein „nach“ diesem Nullpunkt gibt und der Zeitpfeil begänne, sich negativ auszubreiten, wäre gegebenenfalls eine nähere Überlegung wert, welche später nochmals aufgegriffen werden soll.
Im übrigen, der neulich erfolgte und vom Nobelkomitee gewürdigte Nachweis von Gravitationswellen, wie er Thorne, Barish und Weiss von der LIGO-Kollaboration gelungen ist, schlägt erstmals eine praktisch verifizierbare Brücke zur Theorie der Vereinbarkeit der beiden Hauptzweige der Theoretischen Physik und damit zu einer einheitlichen Feldtheorie, welche das Ziel hat, alle Wechselwirkungen der einzelnen Massen- und Energiefelder zusammenzufassen. Dies dient auch der Untermauerung der oben stehenden Phänomene von Längenkontraktion und Zeitdilatation. Auch hier kommt der bekannte Welle-Teilchen-Dualismus zum Tragen – er besagt, daß nicht nur Licht die Eigenschaften vereint, einerseits aus Teilchen zu bestehen und andererseits sich im bewegten Konvolut wellenartig zu verhalten. Die Gravitonen erzeugen demnach ein Feld, das Gravitationskraft vermittelt. Kommt es bei bewegten Massen wie dem ultraschnellen Raumschiff unseres Astronauten-Zwillings zur Bildung solcher Gravitationswellen, zeigen eben diese auf, wie der Raum – und damit auch die Zeit – lokal derartig gekrümmt werden können, daß ein Objekt aus der Sicht eines unbewegten Beobachters schneller als das Licht zu reisen vermag. Die zurückzulegende Distanz verringert sich aufgrund der durch die Gravitationswellen erzeugten Raumkrümmung, und somit bleibt c konstant, auch wenn es für den stillstehenden Zwilling so wirkt, als sei sein Bruder schneller als das Licht gereist. Der Brückenschlag zur Quantentheorie scheint da nicht mehr weit.

Im Allerkleinsten ticken die Uhren anders

Die Zeit und damit unsere gemeine Vorstellung von Kausalität hängen ab von unserer Alltagserfahrung. Dank ihr erkennen wir, ob ein Mann über- oder unterdurchschnittlich groß ist und ob ein Produkt unserer Größenvorstellung entspricht, wenn es neben einer uns bekannten Münze fotografiert wird. Unser Geist vergleicht unablässig eines mit dem anderen, um sich mittels dieser Relationen zu orientieren und Strukturen zu bilden, mit denen wir einen Bezug zu bereits Bekanntem herstellen können. Wenn man es aber mit Größen im Allerkleinsten zu tun bekommt, funktionieren weder Größenrelationen noch temporale Kausalität in gewohnter Art.
Man definiert die Größenordnung von 10-35m – die sogenannte Planck-Länge – als den Bereich, in dem Quanteneffekte maßgeblich werden und die Newtonsche Physik – somit auch die Relativitätstheorien – ihre Gültigkeit verliert. Da dieser Bereich experimentell bisher kaum erschlossen ist, liegt die Formulierung einer vereinheitlichten Feldtheorie im allergrößten Interesse der Physiker, die imstande ist, die quantenmechanischen Effekte dieser raumzeitlichen Region vorherzusagen, ohne damit weiterhin in Konflikt mit den Paradigmen der Newtonschen und Einsteinschen Mechanik zu geraten.
Klar scheint, daß weder die menschliche Alltagserfahrung noch die Vorhersagen der beiden Relativitätstheorien greifbar machen können, was bisher über diesen Bereich in Erfahrung gebracht werden konnte. Eines dieser scheinbar schwer erklärlichen Phänomene zeigt sich in der Unschärferelation des Werner Heisenberg. Sie besagt, daß zeitgleich nur eine meßbare Größe eines Teilchens exakt bestimmt werden kann. Eine zweite kann zu diesem Zeitpunkt alle möglichen Werte und Eigenschaften besitzen. Mißt man die zweite Eigenschaft, verhält es sich mit der ersteren umgedreht genauso. Das Teilchen wird somit in gewisser Weise selbst zu einem singulären Objekt. Da Teilchen in allen Fällen relativistische Objekte sind und damit oberhalb der Planck-Länge angesiedelt werden müssen, wird hier erneut die Koexistenz dieser beiden Welten der Realität offenbar. Ein Teilchen ist zwar ein relativistisches Phänomen, aber quantenmechanischer, das heißt wellenartiger Erscheinung, wenn es im bewegten Konvolut auftritt oder beispielsweise sein Impuls exakt gemessen werden soll, währenddessen man bemüht ist, es exakt zu lokalisieren. Dieses Prinzip der Komplementarität nimmt in der Unbestimmtheit der zweiten Observable zu, je größer die Bestimmtheit der ersten wird. Nach dem Prinzip der Superposition ist im quantenmechanischen Mikrokosmos sogar eine Überlagerung oder Umkehrung kausaler Zusammenhänge möglich. Ursache und Wirkung können hier scheinbar zeitgleich oder eben auch im Wechsel eintreten. So kann es aufgrund der Unbestimmbarkeit von differenzierbaren Observablen auch geschehen, daß eine Wirkung post hoc ergo propter hoc zu ihrer eigenen Ursache wird.
Mir scheint hier der Rahmen für eine kleine eigene Spekulation gegeben, indem ich im Lichte dieser Beschreibung der Komplementarität und der Superposition die oben erläuterten Singularitäten wieder aufgreife. Wenn Schwarze Löcher über ihre ganze Existenz hinweg sämtliche sie umgebende Materie verschlucken, wohin mit dieser ganzen Energie? Bereits erwiesen scheint, daß es trotz der beschriebenen Eigenschaften fortwährend zu einem Energie- und damit auch Masseverlust bei beobachtbaren Schwarzen Löchern kommt. Das heißt, ihre Masse nimmt in Relation zum Materienachschub nicht immer gleichförmig zu. Der britische Physiker Stephen Hawking postulierte hier die Hawking-Strahlung, eine hypothetische Wärmestrahlung, die dem Ereignishorizont des Schwarzen Loches dann doch entkommen kann. In Anbetracht der beschriebenen quantenmechanischen Effekte paßte wohl die These, daß der beschriebene Nullpunkt, an dem die Zeit im Inneren der Singularität aufhört zu fließen, nicht das Ende der Reise der absorbierten Materie sein muß. Im Sinne der umgekehrten Kausalität: Könnte es möglich sein, daß die in ihre Bestandteile zerlegte Energie, an diesem Nullpunkt angekommen, umgekehrt in der Zeit beschleunigt wird und damit unter diesen extremen Bedingungen negative Zeit zum Tragen kommt? Würde rein hypothetisch von dieser Reise in die Vergangenheit ausgegangen, gibt es nach knapp vierzehn Milliarden Jahren Reise nur einen Ort-Punkt, an dem die Energie enden kann, da es zu diesem Zeitpunkt nur einen Ort gab. Ja, das Universum war damals nur ein Ort extrem verdichteter Energie. Die dem Urknall vorangesetzte Anfangssingularität barg sämtliche Rohenergie, die wir heute im Kosmos vorfinden. Die Singularitäten der Gegenwart und Zukunft könnten also die Rohenergie liefern oder geliefert haben – ganz nach linguistischem Geschmack – um die Anfangssingularität zu bilden. So könnte das gegenwärtige Universum mit all seiner Energie und Masse post hoc ergo propter hoc seine eigene Ursache sein.
Nachdem nun ein Einblick in die Definition von Zeit gegeben wurde und erörtert wurde, inwiefern sie lediglich durch ihre Relation zu anderen Strukturen und Größen real zu sein scheint, gilt es zu klären, inwieweit ein Schöpfer in diese relative temporale Kausalität zu integrieren sei.

„Vor“ dem Urknall

In der Frage zum Anfang des Universums gilt es logischerweise, dessen Ursprung zu beleuchten. Wenn der Kosmos einen Startpunkt und eine Startzeit besitzt, muß doch etwas vor diesem großen Knall gewesen sein, irgend etwas fest Terminier- und lokal Bestimmbares. Der Schöpfer sollte sich doch vor der Erschaffung des Kosmos an irgendeinem Punkt involviert und damit jenen Prozeß in Bewegung gebracht haben, der uns heute ermöglicht, solcherlei Fragen überhaupt zu stellen! Wenn wir dies annehmen – woher stammt der Schöpfer und wie lange existiert er schon?
„Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.“ (Offenbarung 1,8 EÜ).
Im hier zitierten ersten Kapitel der Offenbarung des Johannes spricht der Herr von sich selbst als Alpha und Omega. Dies impliziert, daß er Anfang und Ende ist. Zudem beschreibt er sich als Derjenige, der ist und war und kommt. Aus physikalischer Perspektive sticht hier klar ein temporaler Sachverhalt hervor. Wenn Gott IST, dann bezieht sich das auf seine Präsenz in der Gegenwart, wenn er WAR, dann auf seine Existenz in der Vergangenheit und wenn er dann KOMMT, muß die Zukunft gemeint sein. Durch diese Beschreibung in Kombination mit der Annahme, daß er den Zeitpfeil nicht nur vor Augen hat, sondern auch dessen Anfang und Ende ist – seine Ursache sowie seine Wirkung –, kommt doch klar zum Ausdruck, daß der Herr dem Fluß der Zeit offenbar nicht unterworfen ist, anders als seine Schöpfung. Gott beherrscht demnach seine Schöpfung, und diese ist ihrer Natur nach kein rein räumliches, sondern ein raumzeitliches Gebilde. Wenn Gott den Raum, also sämtliche Materie und Energie des Universums geschaffen hat und beherrscht, dann beherrscht er ebenso die Zeit und ist als Ursache derselben zu begreifen.
Auch Christus bedient sich ähnlicher Worte im gleichen Buch, wenn er sagt: „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte(Offb. 1,17b EÜ). Oder über Christus gesprochen: „So spricht Er, der Erste und der Letzte, der tot war und wieder lebendig wurde“ (Offb. 2,8b EÜ). Wenn dann am Ende der Offenbarung und damit zum Ende der ganzen kanonischen Bibelaufzeichnung gesagt wird: „Siehe, ich komme bald, und mit mir bringe ich den Lohn, und ich werde jedem geben, was seinem Werk entspricht. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ (Offb. 22,12-13 EÜ) wird die Wesensidentität von Gott und Christus über die ganze Schöpfung und damit über Raum und Zeit gesetzt. Da der Herr allein von Anbeginn der Zeit an das ganze Universum überblickt, kann auch nur er allein darüber verfügen. Und: Nur er ist dazu in der Lage, seine Schöpfung zu beurteilen und zu über sie zu richten.
Wenn man sich des Axioms klar ist, daß der Anbeginn des Universums mit dem Anbeginn der Zeit gleichgesetzt werden muß, wird die Frage nach dem „Vorher“ obsolet. Es gab nicht „Nichts“ vorher, sondern ein „Vorher“ gab es nicht. Mit der Expansion der Anfangssingularität begannen die Relationen und kausalen Vorgänge erst zu geschehen, welche das „Vergehen“ von Zeit definierbar machen. Ein „Vorher“ im physikalischen Sinne kann daher ausgeschlossen werden. Tempus fugit – jedoch erst seit Anbeginn der Zeit.
Der Schöpfergott ist also als Wesen außerhalb von unserem 3+1-dimensionierten Raumzeitgefüge anzusehen, welcher jene Naturkräfte, die alle Vorgänge innerhalb des Universums erst möglich machen, ebenso erschaffen hat, wie er uns befähigt hat, über dergleichen Fragen zu sinnieren. Die Bindung des Menschen an zeitliche Paradigmen ist offenbar nichts, was dem Schöpfer selbst eigen ist. Als Erschaffer der Zeit kann er ihr nicht unterworfen sein, denn der Herr ist schwerlich als Schöpfung seiner Selbst vorstellbar, auch wenn quantenmechanische Sachverhalte die post hoc ergo propter hoc-These des „danach also deswegen“ durchaus vorstellbar machen. Dies ist jedoch deshalb auszuschließen, weil die Quantenmechanik ebenso ein Teil des erschaffenen Universums ist wie die Zeit – sie ist, in welcher relativen Geschwindigkeit oder Kausalität auch immer, unverrückbar mit unserer vierdimensionalen Realität verknüpft. Der Schöpfer kann demnach nicht der Zeit und einer temporalen Kausalität irgendeiner Relation unterworfen sein.
Da von Ursachen zu sprechen erst in Bezug auf raumzeitliche Gefüge Sinn ergibt, wird auch die Frage nach dem kausalen Ursprung des Schöpfers obsolet. Er benötigt – weil nicht unseren Naturgesetzen unterworfen – keine Ursache und erst recht kein definierbares Alter. Die Realität Gottes könnte man vielleicht als Zustand infiniter Divergenzen in infiniten Kombinationen verstehen, eine Mannigfaltigkeit, in der alle Kräfte, Energien und Gesetzmäßigkeiten unseres Universums ihre temporal akausalen Ursprünge haben. Somit könnte es dem Schöpfer möglich geworden sein, die Idee der Schöpfung zu haben, da er alle Informationen für alle möglichen Universa Sein nennt. In dieser grenzen- und zeitlosen Sphäre gab es im übertragenen Sinne Papier, Farbe und Pinsel, um das Gemälde unserer Realität zu erschaffen. Nur der Schöpfer war in der Lage, die Zweckmäßigkeit dieser Utensilien zu erkennen und ihnen mit der Erschaffung unseres universellen Gemäldes eine Ordnung und Bedeutung zu geben. So waren die Grundinformationen zur Erschaffung von Raumzeit und Energie vorhanden, um vom Herrn in ein geordnetes Ganzes gemäß seiner Vorstellung transformiert zu werden.
Um diese übergeordnete Realität in Ansätzen zu erfassen, stellen wir uns das Leben in einer 2+1-dimensionierten Welt vor: Die mathematische und gesellschaftskritische Novelle „Flächenland“ von Edwin A. Abbott setzt da an: Im Flächenland fehlt die Dimension der Höhe. Alle Bewohner sind in simple geometrische Formen untergliedert, wie Rechtecke, Quadrate oder Kreise. Es gibt grenzenlos umständliche Wege herauszufinden welcher geometrischen Form das Gegenüber zuzuordnen ist, da ja die Draufsicht aufgrund der fehlenden Höhendimension fehlt. Wenn wir uns innerhalb dieser Parabel beispielsweise als ein gleichschenkliges Dreieck vorstellen wollten, wie es wäre, einer räumlichen Dimension mehr zu unterliegen, würden wir sehr schnell an unsere intellektuellen Grenzen stoßen. Leichter scheint es da, sich vom Höherdimensionierten zum Niedrigerdimensionierten zu denken und sich das Flächenland zum Exempel als ein Blatt Papier vorzustellen. Wir sind der Künstler, uns stehen ein Pinsel und Farbe zur Verfügung, und wir können damit auf diesem Blatt ein eigenes Universum erschaffen, welches in sich geschlossen dem unsrigen untergeordnet existiert. Für die Schöpfungen dieses Universums gäbe es – die Dicke des Papiers und der aufgetragenen Farbe sei hier ignoriert – nur zwei räumliche Dimensionen. Woher das Rohmaterial für ihre Realität kommt, wüßten sie nicht. Ebenso wenig könnten sie die dreidimensionale Welt des Schöpfers wahrnehmen, obwohl diese sie umgibt und damit greifbar nah ist. Wir jedoch hätten die Macht, diese kleine Welt nicht nur zu erschaffen, sondern auch zu beeinflussen. Wir könnten neue Objekte hinzufügen und andere wieder entfernen – bis hin zur Vernichtung und kompletten Neuordnung der Papierwelt. In der Realität des Künstlers ist die Farbe, die er streicht, kleckst oder tupft, nur ein Werkstoff von vielen. Für die Geschöpfe der Papierwelt wäre diese Farbe jedoch das, aus dem alles gemacht ist, der Werkstoff, der ihre ganze Realität ausmacht. Und da sie zweidimensional konzipiert wurden, könnten sie allerhöchstens zu dem Schluß kommen, daß ihre Welt und das, woraus sie besteht, Ursprung in einer höheren Wirklichkeit genommen hat, in einer scheinbar infiniten Mannigfaltigkeit. Wie diese Wirklichkeit aussehen mag, könnten sie nicht erahnen.
Der ursachenlose Schöpfer ist demzufolge kein kausaler Widerspruch, da er unserer Vorstellung von Zeit und Raum als ihr Erschaffer nicht unterworfen ist. Gerade in Anbetracht der hier aufgezeigten Relativität der Zeit mutet der Versuch Einzelner oder ganzer Gruppen grotesk an, die biblische Überlieferung zur Entstehung der Welt ohne übergeordneten Kontext mit allzu streng verstandenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden. Wenn die Zeit für den Schöpfer nur eine seiner vielen Schöpfungen darstellt, wieso wäre er dann aus unserer Sicht an sie gebunden? Für Gott muten tausend Jahre an wie ein einziger Tag, wie in Psalm 90,4 zu lesen. Das zeigt doch sehr deutlich auf: Die Realität des Schöpfers – Souverän über Raum und Zeit – mit unserer eigenen physikalischen Wirklichkeit gleichzusetzen wäre ebenso töricht wie dieselben Texte als wörtliche Rechenformel der Schöpfungsgeschichte zu verstehen. Der Herr ist das Alpha und das Omega und damit auf naturwissenschaftlichem Wege weder zu belegen noch zu widerlegen, da er keiner fundamentalen Gesetzmäßigkeit unseres Universums unterworfen ist. Das höchste Maß an empirischer Nähe zum Schöpfer ist insofern erreicht, wenn wir die Grenzen unseres Wahrnehmungs- und Denkvermögens als die natürliche Grenze zur Realität des Herrn begreifen. Der Glaube an ihn ist ein Geschenk. Wenn wir es annehmen, gehört uns das Leben sub specie aeternitatis.

Literatur

Abbott, Edwin A.: Flächenland – Ein Märchen mit mehrerlei Dimensionen. Übersetzt von Antje Kaehler. RaBaKa Publishing, I. Auflage der Neuübersetzung, Neuenkirchen 2009
Deissler, Alfons & Vögtle, Anton (Hrsg.): Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. III. Auflage der Sonderausgabe. Herder Verlag, Stuttgart, 2007
Planck, Max: Das Prinzip der Erhaltung der Energie. B. G. Teubner Verlag, II. Auflage, Leipzig und Berlin, 1908
Randall, Lisa: Verborgene Universen – Eine Reise in den extradimensionalen Raum. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hartmut Schickert. Verlag S. Fischer, I. Auflage, Frankfurt a.M., 2006
Randall, Lisa: Die Vermessung des Universums – Wie die Physik von Morgen den letzten Geheimnissen auf der Spur ist. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Schröder. Verlag S. Fischer Verlag, II. Auflage, Frankfurt a.M., 2012
Spatschek, Karl-Heinz: Astrophysik – Theorie und Grundlagen. B. G. Teubner Verlag, I. Auflage, Wiesbaden, 2003

Orietur Occidens