Ex porticibus sapientiae

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E&E 14 S.11-25  2009
Wilfried Hasselberg-Weyandt

Philosophiegeschichte
und moderne Naturwissenschaft

Das «naturwissenschaftliche Weltbild» ist bei uns zu etwas wie einer informellen Staatsreligion geworden, als sei es gleichsam objektiv gegeben.
Das ist es aber nicht. Einerseits ist mittlerweile dieses Weltbild von der Naturwissenschaft, der Physik, weitgehend verlassen worden; andererseits entspringt es keineswegs unmittelbar der empirischen Wissenschaft, sondern einer historischen philosophischen Vorentscheidung.
Zwei Erlebnisse haben meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt:
Vor etwa zwei Jahren hörte ich einen Vortrag des Physikers Hans-Peter Dürr, der auch nach den ontologischen Implikationen der modernen Physik fragt.
Im vergangenen Jahr beschäftigte mich die Geistesgeschichte des Wirtschaftsliberalismus1; dabei begegnete mir der englische «Skeptizismus» des XVIII. Jahrhunderts. Dabei fiel auf, daß der Denker jener Zeit, der am ehesten den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft entspricht, nicht etwa der in seiner Zeit – so etwa durch Kant – hochgerühmte Hume, sondern der frömmere Berkeley war.
Ich meine nicht, daß Berkeley recht hat. Aber er ist philosophisch kaum zu widerlegen. Es ist interessant, zu sehen, daß eine konsequent akosmistische Sicht philosophisch besser durchzuhalten ist und gegenüber der modernen Physik eher bestehen kann als eine konsequent materialistische. Darum sollen zunächst Dürr und Berkeley zu Wort kommen.

Der Physiker

Wir sind daran gewöhnt, die Materie als das anzusehen, was im physischen Kosmos primär existiert, so daß wir das Wort «Substanz» meist nur noch für materielle Stoffe benutzen. Die moderne Physik jedoch vermag dem nicht mehr zu folgen, sieht in der Materie eher eine Manifestation von etwas anderem. Albert Einstein nach wäre dieses Andere die Energie (im physikalischen Sinn), die demnach die eigentliche Substanz sein könnte. Die neueren Erkenntnisse scheinen aber eher zu zeigen, daß auch die Energie etwas Sekundäres ist, so daß dahinter erst die eigentliche materielle Substanz zu suchen wäre. Man mag nun darauf warten, daß die Physik der Zukunft eine wirkliche Materie hinter unserer «Materie» und hinter unserer «Energie» finden werde.
Es ist ja in der Tat so, daß philosophische Begriffe voreilig oder aus einem Mißverständnis hinaus für physikalische Sachverhalte benutzt werden. So sind die Teilchen, die physikalisch «Atome» genannt werden, ja bekanntlich spaltbar, also keine wirklichen Atome. Mittlerweile hat man die Bestandteile («Quarks») von deren Bestandteilen (Elementarteilchen) mehr oder weniger sicher entdeckt; und man ist bereits mit der Suche nach den Bestandteilen dieser «Quarks» («Superstrings»?) beschäftigt. «Energie» sei, haben wir im Physikunterricht gelernt, «gespeicherte Arbeit»; das heißt, daß «Energie» als «Arbeit» aktualisiert wird – Energie aber ist in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes umgekehrt die Aktualisierung einer Dýnamis, einer Potenz. So kann es nicht wunder nehmen, wenn auch die «Materie» der Physiker etwas anderes ist als die der Philosophen, die echte Materie hinter der «Materie» unserer Physik zu suchen ist.
Aber dem Physiker Hans-Peter Dürr nach wäre das ein Kurzschluß. Er erklärt das für primär wirklich, was «zwischen» den materiellen Dingen ist, eben nicht die Dinge selbst: «Primär existiert nur Zusammenhang, das Verbindende ohne materielle Grundlage», er will es mit «der Software in einem Computer vergleichen».
Das ist ein logisches Dilemma: das, was seinem Wesen nach zwischen den Dingen ist, die Dinge also voraussetzt, wäre den Dingen gegenüber das Primäre, würde also von den Dingen vorausgesetzt.
Wenn Dürr dieses «Verbindende» dann «Lebendigkeit», «Geist» nennt, so kann man das nicht als physikalische Aussage nehmen, sondern als Ausfluß eines pantheïstisch gefärbten Weltbildes. Wenn er aber sagt: «Die Wirklichkeit ist nicht die Realität. Unter Realität verstehen wir eine Welt der Dinge» (die es so eben nicht gebe), so ist das weniger abwegig als es klingt – die zugrundeliegenden Begriffe «res» und «wirken» haben in der Tat eine ganz unterschiedliche Bedeutung; übersetzt man «Realität» mit «Dinglichkeit», so erscheint dieser Gegensatz nicht mehr unsinnig. (Abwegig wird es freilich wieder, wenn Dürr «Wirklichkeit» und «Potenzialität» gleichsetzt.)
Eigentlich bleiben nur zwei Möglichkeiten, wenn man philosophisch den Ergebnissen der modernen Physik gerecht werden will: entweder man nimmt doch eine Materie hinter der «Materie» und «Energie» der Physiker an; oder man schaut sich um nach einer anderen Philosophie, genauer gesagt: nach einer anderen philosophischen Physik, einer, die «Wirklichkeit» von «Realität» unterscheidet.
Da bietet sich George Berkeley an.

George Berkeley

George Berkeley (1685 – 1753) geht davon aus, daß alles, was der Mensch wahrnimmt, Ideen sind, daß die Annahme einer äußeren Wirklichkeit, die diesen Ideen entspricht, nur ein Schluß aus diesen Ideen ist.
Es gibt in seinen Augen denkende Wesen, Geister oder Seelen, wie Ich selbst es bin, und Ideen, die innerhalb dieser Geister existieren, deren Voraussetzung demnach diese Geister sind, in denen sie existieren (II.).
Die sinnlich wahrgenommenen Dinge sind solche Ideen; ihr Sein – «esse» – besteht in ihrem Wahrgenommenwerden – «percipi». «Materie» ist eine Deutung der Ideen. Sie beruht auf dem Gedanken, es gebe den Ideen «ähnliche Dinge, deren Copien oder Ebenbilder sie sind, ... und diese Dinge existiren ausserhalb des Geistes in einer nicht denkenden Substanz» (VIII.). «Ich antworte: eine Idee kann nur einer Idee ähnlich sein, eine Farbe oder Figur nur einer anderen Farbe oder Figur. ... Ausserdem frage ich, ob diese vorausgesetzten Originale oder äusseren Dinge, deren Abbilder oder Darstellungen unsere Ideen seien, selbst percipirbar seien oder nicht. Sind sie es, dann sind sie Ideen ... ; sagt ihr dagegen, sie seien es nicht, so gebe ich jedem Beliebigen die Entscheidung anheim, ob es einen Sinn habe, zu behaupten», etwas Wahrnehmbares sei ähnlich etwas nicht Wahrnehmbaren, so etwa «eine Farbe sei ähnlich etwas Unsichtbarem, Härte oder Weichheit ähnlich etwas Untastbarem u.s.w.» (ibid.). «Aber wie Materie auf einen Geist wirken oder irgend eine Idee in ihm hervorbringen möge, das zu erklären, wird sich kein Philosoph anheischig machen» (L.).
Also wäre Materie nichts als eine Idee, die folglich nur in einem Geist existiert, oder aber sie wäre etwas wahrnehmbares Unwahrnehmbares, so daß «der Begriff von dem, was Materie oder körperliche Substanz genannt wird, einen Widerspruch in sich schliesst» (IX.).
Freilich argumentiert Berkeley, näher betrachtet, nur gegen die Existenz wahrnehmbarer Materie, nicht gegen die von Materie an sich – dessen ist er sich zwar bewußt, aber er hält das, darin sehr britisch, für bedeutungslos: «wenn das, was ihr unter dem Worte Materie versteht, nur der unbekannte Träger unbekannter Qualitäten ist, so ist es gleichgültig, ob ein solches Ding existirt oder nicht, da es uns nichts angeht» (LXXVII.).
Aber Berkeley weiß die Gefahr des Idealismus zu vermeiden, weshalb auch der Radikal-Idealist Fichte (Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre. Jena 1797) befindet, daß das Berkeley’sche «System ein dogmatisches, und keinesweges ein idealistisches ist».
Berkeley erkennt den Kosmos der Ideen an; er erklärt: «Dass die Dinge, die ich mit meinen Augen sehe und mit meinen Händen betaste, existiren, wirklich existiren, bezweifle ich nicht im Mindesten. Das Einzige, dessen Existenz wir in Abrede stellen, ist das, was die Philosophen Materie oder körperliche Substanz nennen» (XXXV.). Denn er weiß: «Aber was für eine Macht ich auch immer über meine eigenen Gedanken haben mag, so finde ich doch, dass die Ideen, die ich gegenwärtig durch die Sinne percipire, nicht in einer gleichen Abhängigkeit von meinem Willen stehen» (XXIX.). So kann man also im Sinne von Dürr sagen, daß Berkeley keine Realität, keine Dinglichkeit der Materie kennt, wohl aber ihre Wirklichkeit.
Aus diesen wirklichen Ideen nun läßt sich das Wirken des Schöpfers erschließen: «Es giebt demnach eine Ursache dieser Ideen, wovon sie abhängen und durch die sie hervorgebracht und verändert werden. ... Dieselbe muss also eine Substanz sein; es ist aber gezeigt worden, dass es nicht eine körperliche oder materielle Substanz giebt; es bleibt also nur übrig, dass die Ursache der Ideen eine unkörperliche thätige Substanz oder ein Geist ist» (XXVI.).
Vom Schöpfer, von Gott, hat der Mensch Kenntnis (notion), ebenso wie von anderen Menschen; aber solche Kenntnis ist etwas ganz anderes als eine Idee: «Doch muss gleichzeitig zugegeben werden, dass wir einen gewissen Begriff (notion) von der Seele, dem Geist und den psychischen Thätigkeiten, wie Wollen, Lieben, Hassen haben» (XXVII.). «Hieraus ist klar, dass wir nicht einen Menschen sehen, wenn unter Mensch etwas uns Aehnliches, das lebt, sich bewegt, wahrnimmt und denkt, verstanden wird, sondern nur einen solchen Ideencomplex, der uns anleitet, zu denken, dass ein besonderes Denk- und Bewegungsprincip, welches uns selbst gleiche, damit zugleich vorhanden und dadurch repräsentirt sei. In der nämlichen Weise sehen wir Gott; der ganze Unterschied liegt darin, dass, während irgend eine endliche und begrenzte Gruppe von Ideen einen einzelnen menschlichen Geist anzeigt, wir jederzeit und überall, wohin wir auch unsere Blicke richten mögen, deutliche Spuren der Gottheit erblicken, da jegliches Ding, das wir sehen, hören, fühlen oder irgendwie sinnlich wahrnehmen, ein Zeichen oder eine Wirkung der göttlichen Macht ist» (CXLVIII.).
Auf diese Weise hat Berkeley auch die Schwierigkeit gelöst, wie man die Existenz anderer Menschen erkennen könne, während man die Realität der Materie leugnet, in der sie sichtbar werden.
Bemerkenswert ist, daß Berkeley aus seiner Kosmologie naturwissenschaftliche, physikalische Konsequenzen zieht, die erstaunlich modern sind, auch noch im Vergleich zu Physik des XIX. Jahrhunderts: er leugnet den absoluten Raum und damit auch die Möglichkeit absoluter Bewegung, sogar den leeren Raum (CXII.-CXVII.), womit er die Sicht der Relativitätstheorie vorwegnimmt; ebenso paßt es zur Relativitätstheorie, daß er «eine einfache, von der Ideenfolge in meinem Geist abstrahirte Idee der Zeit» leugnet, «die gleichmässig verfliesse, und an der alle Dinge Theil haben» (XCVIII.). Ebenso lehnt er die damals herrschende Lehre von der unendlichen Teilbarkeit der Materie ab (XLVII.).

Antipoden von Berkeley

Die Vorgabe: René Descartes

Am Anfang der Barockphilosophie stand Descartes (1596 – 1650). Er hatte in den «Meditationes de prima philosophia» (1641) aufgezeigt, daß das, was zuerst zweifelsfrei erkennbar ist, die eigene Existenz ist – das heißt, daß der denkende Mensch als eigene Substanz existiert: «Cogito, ergo sum». Daß alle Wahrnehmung zunächst die Wahrnehmung von Ideen ist, die in meinem eigenen Intellekt, meinem Geist sind, so daß ich sicher zunächst nicht vom Inhalt dieser Wahrnehmungen, sondern von mir selbst, von meiner Existenz weiß, daß somit die Annahme einer äußeren Wirklichkeit, die diesen Ideen entspricht, nur ein Schluß aus diesen Ideen ist, der nicht selbstverständlich ist, diesen Gedanken verdankt Berkeley also Descartes.
Allerdings war Descartes zu einer ganz anderen Bewertung gekommen. Die Existenz der Materie meint er beweisen zu können, freilich auf einem Umweg – durch das Vertrauen auf Gott, der uns nicht täuscht. Sein Gottesbeweis jedoch ist schwach. Durch den Zweifel an der Realität der wahrgenommenen Schöpfung bedarf der überlieferte Gottesbeweis aus der Schöpfung, der sich auch in der Bibel findet (Descartes selbst erwähnt ihn in seinem Brief an die Theologische Fakultät von Paris, mit dem er auf seine Meditationen hinweist, zitiert das Buch der Weisheit 13 [8 f.] und den Römerbrief 1 [19. 20]) der Neuformulierung. Die natürliche Neuformulierung ist der Schluß aus meiner eigenen Existenz auf meinen Schöpfer; daß ich nicht selbst Gott bin, ergibt sich aus meiner Kontingenz, die bei Descartes und – genauer – bei Berkeley dargelegt ist. Jedoch ziehen beide, Descartes und Berkeley, es vor, aus den Ideen auf den Schöpfer zu schließen. Dieser Schluß gelingt Berkeley wesentlich besser als Descartes.
Eine Schwäche von Descartes’ Philosophie ist sein strikter Dualismus von Seele und Materie. Aristoteles, für den die Seele die Form des Körpers war, wurde in der Barockphilosophie weitgehend außer Acht gelassen. Allerdings hat auch Aristoteles’ Metaphysik ihre Schwäche: sie definiert die Identität der Seele durch ihre Zugehörigkeit zum einzelnen Körper – dies hätte der Berichtigung bedurft. Dem barocken Dualismus von Descartes an aber gelingt es nicht, nun ganz ohne Aristoteles in befriedigender Weise die wechselseitige Einwirkung von Seele und Leib aufeinander zu verstehen; so kommt es in der späteren Barockphilosophie zu mehr komplizierten als überzeugenden Systemen wie Okkasionalismus und prästabilierter Harmonie.

Thomas Hobbes

Hobbes (1588 – 1679) hatte ähnlich angesetzt wie Berkeley: «Die Anfänge alles Wissens sind die Phantasmen der Sinne und Einbildung» (Elementa philosophiae, Sectio prima: De corpore I./6.) – mit Phantasmen meint er das, was Berkeley Ideen nennt, wobei er freilich darin die von Berkeley geschmähten abstrakten Ideen einschließt. Dann folgt als Beginn der Philosophie die Methode der «Privation» (II./7.), er beginnt mit einer Welt, die nur aus «Ideen und Phantasmen» besteht. Doch dann taucht unbegründet die Materie, ein «Körper» als «ein Ding, das durch sich selbst besteht», auf (II./8.); die Existenz solcher Körper wird als gegeben betrachtet, nicht mehr begründet. Hobbes Einführung von Körpern wird also seinem eigenen Anspruch, die Philosophie «schließt ferner nicht nur jede falsche, sondern auch jede nicht gut begründete Lehre aus» (I./1.) nicht mehr gerecht; erst recht wird das nicht der ausschließliche Materialismus, den er postuliert – «Alle benannten Dinge können in vier Klassen geteilt werden: Körper, Accidenzien, Phantasmen und die Namen selbst» (I./5.). Die Existenz der Seele lehnt er ebenso mit unbegründeten Behauptungen ab: «denn die Subjekte aller Tätigkeiten sind, wie es scheint, allein unter dem Begriff von etwas Körperlichem oder Materiellem zu denken» schreibt er in seinen «Einwänden gegen die Meditationen des Descartes» (2.). Durch diese Petitio principii, mit der er das Gegenteil von dem, was Descartes beweist, zur Voraussetzung erklärt, ist natürlich jede Auseinandersetzung mit jeglichen nichtmaterialistischen Gedanken erledigt.
Natürlich kann man rational für die Existenz von Materie argumentieren – Descartes hat es getan; Hobbes tut es nicht. Wären nur die Argumentationen von Hobbes und Berkeley gegeneinander abzuwägen, so müßte man Berkeley Recht geben, die Existenz der Materie also verneinen.

David Hume

Hume (1711 – 1776) führte Hobbes’ Materialismus weiter aus. Er bezeichnet seine Philosophie als «skeptisch». Aber eine konsequente Skepsis, wie Descartes sie als Methode vertritt, lehnt er ab (XII.1). Ganz unskeptisch nimmt er die äußere Existenz der Materie ohne Argumentation als gegeben an (XII.1), um dann Willensfreiheit (VIII.), Wunder (X.), ewiges Leben und, etwas verbrämt, die Existenz Gottes (XI.) für unglaubwürdig oder gar unmöglich zu erklären. Echte Argumente bringt er nie; «Skepsis» bedeutet für Hume offenkundig ganz einfach, einerseits all das zu bestreiten, was seiner Weltanschauung widerspricht, andererseits aber jedwede Skepsis gegen das, was in dieser Weltanschauung, im «untrüglichen und unwiderstehlichen Natur-Instinkt», enthalten ist, als ganz überzogen abzutun. Er bestreitet die Möglichkeit der Willensfreiheit, weil in der Natur alles genau bestimmt sei durch die wirksamen Ursachen, die wirkenden Kräfte; dementsprechend sei alles Handeln durch die wirksamen Motive naturgesetzlich festgelegt. Die Berechtigung dieses Analogieschlusses wird nicht wirklich begründet; und für den allgemeinen naturgesetzlichen Determinismus führt er nur ein «Man erkennt allgemein an» (VIII.1) an – im Studium wurden wir darauf hingewiesen, daß solch eine Floskel bedeutet, daß man keinen Beweis weiß. Diese Vorstellung von der völligen Determination der Natur durch die Naturgesetze ist heute obsolet. Wunder erklärt er für unmöglich, weil «die allgemeine Erfahrung einen vollen Beweis abgiebt» gegen jedwede Bezeugung eines Wunders. Daß ein Inder diesem Prinzip getreu auch nicht an Eis und Schnee glauben könne, fällt Hume selbst auf; aber er spielt das herunter: «Wenn sie auch seinen Erfahrungen nicht widersprachen, so stimmten sie doch nicht damit überein». Und: «Die Einwohner von Sumatra ... sahen nie das Wasser während des Winters in Moskau und können deshalb nicht bestimmt wissen, welcher Erfolg da eintreten wird.» Das stimmt; aber für den, der nie ein Wunder gesehen hat, könnte man entsprechendes sagen. Außerdem könnte man Humes Argument gegen Wunder auch gegen den Umlauf der Erde um die Sonne wenden, sagen, daß dagegen «die allgemeine Erfahrung einen vollen Beweis abgiebt» – bis heute haben ja doch alle gesehen, daß sich die Sonne bewegt, nicht die Erde. Ebenso ließe es sich gegen die Beobachtungen wenden, die zur Entwicklung der Relativitätstheorie führten. Humes materialistische Thesen widersprechen also zum Teil dem modernen wissenschaftlichen Wissen, zum Teil wären sie für die Naturwissenschaft ein Hemmnis. Es ist dagegen die akosmistische Philosophie Berkeleys, die zu neuer naturwissenschaftlich gültiger Erkenntnis führt.
Dennoch war es aber die begründungsarme und wissenschaftlich unproduktive Philosophie des von Kant hochgeschätzten Hume («David Hume, von dem man sagen kann, daß er alle Anfechtung der Rechte einer reinen Vernunft, welche eine gänzliche Untersuchung derselben notwendig machten, eigentlich anfing ...»; Kritik der praktischen Vernunft I.I.I.8.II.), die beim deutschen Idealismus Pate stand und so das moderne Weltbild bis heute mitgeprägt hat.

Bewertung

Wenn Hobbes und Hume die Existenz der Materie als selbstverständlich einfach voraussetzen, die Existenz Gottes und die eigene aber hintansetzen, mehr oder weniger offen leugnen, so ist das also eine unbegründete Vorannahme, die nur durch die Absicht erklärlich ist, die Materie als «ens a se» einzusetzen, ihr also die Stelle Gottes zuzuschreiben.
Begründet wird das durch den Primat der sinnlichen Wahrnehmung im menschlichen Verstand. Aber die heutige Psychologie weiß, daß schon die Wahrnehmung, die Perzeption ein geistiger Akt ist, der die einfachen Sinnesreize organisiert; erst recht ist die Kognition, die Erkennung von Gegenständen und Geschehnissen, ein geistiger Akt. Das aber wußte schon Descartes; er beschreibt es am Beispiel des Wachses in seinen «Meditationes». Wenn aber die Wahrnehmung von Gegenständen bereits ein geistiger Akt ist, so ist es unsinnig, der sinnlichen Wahrnehmung körperlicher Gegenstände a priori einen Primat einzuräumen gegenüber geistiger Erkenntnis wie besonders der Erkenntnis des eigenen Selbst oder der Erkenntnis Gottes.
Wenn die Existenz der Seele verneint wird aufgrund von Annahmen, die auf der sinnlichen Wahrnehmung gründen, so sei das einmal im Geiste von Descartes geprüft: Ich beobachte; ich bedenke meine Beobachtungen, ziehe Schlüsse daraus; und schließlich folgere ich aus meinen Schlüssen, daß es mich selbst, meine Seele, das Subjekt meiner Beobachtungen und meines Denkens, gar nicht gibt. Damit fiele die Voraussetzung dieser Schlüsse und Beobachtungen fort; so verneint solch ein empirischer Materialismus sich selbst.

Schwächen von Berkeleys Philosophie

Was viele Denker der Aufklärung gegen Berkeley eingenommen hat, ist sicher die zentrale Rolle, die Gott als Schöpfer – Schöpfer der Geister und der Ideen zugeschrieben wird. Aber das ist eine verzerrte Sicht – in einem kosmistischen Weltbild ist die Annahme des Schöpfers gleichermaßen notwendig, wie bereits Aristoteles und andere Philosophen ebenso wie das biblische Buch der Weisheit festgestellt haben. Hier kann die Notwendigkeit dieser Annahme nur leichter vernebelt werden als ins Berkeleys System.
Eine Schwäche Berkeleys ist sein radikaler Nominalismus, der ihn dazu führt, auch die Existenz von Zahlen und arithmetischen Gesetzen zu leugnen (CXX.-CXXII.). Deren Gültigkeit, offenkundig keine Eigenschaft der Einzeldinge und unabhängig von ihnen bestehend, ist das Grundproblem jedes nominalistischen Systems – Berkeley löst es nicht. Aber so massiv er seine nominalistische Überzeugung in der Einleitung und in den Abschnitten über Zahl und Arithmetik auch ausführt – für seinen übrigen Gedankengang ist sie unerheblich; mit seinem Nominalismus fällt keineswegs sein ganzes System.
Eine Schwäche seines Systems dagegen ist sein Begriff von Ähnlichkeit. Er befindet, «dass eine Idee nur einer Idee ähnlich sein kann, und dass demgemäss weder sie selbst noch auch ihre Urbilder in einer nicht percipirenden Substanz existiren können» (IX.). Daß es nicht nur wesentliche, sondern auch formale Ähnlichkeiten gibt, die äußere Objekte mit ihren geistigen Abbildern teilen können, wie es für die ältere Philosophie und noch für Descartes selbstverständlich war, ist eine Denkmöglichkeit, mit der Berkeley sich nicht auseinandersetzt, die unwiderlegt bleibt. Mit ihr aber fällt Berkeleys Beweisführung.
Das allerdings bedeutet nur, daß er nicht zwingend recht hat, nicht etwa, daß er unrecht habe. Also bleibt die Frage: existiert Materie?

Argumente gegen Berkeleys System

Es gibt ein methodisches Argument gegen Berkeleys Akosmismus: die Annahme der Existenz von Materie bedeutet, das der materielle Kosmos einfach existiert. Berkeley dagegen muß annehmen, daß dieser Kosmos in jedem Geist jeweils gleich von Gott geschaffen ist – in gewisser Weise eine Variante von Leibniz’ «prästabilierter Harmonie». Es steht also die These von der einfachen materiellen Schöpfung gegen die von der vielfach wiederholten immer gleichen Schöpfung des ideellen Kosmos in jedem einzelnen Geist. Die erstere These ist die entschieden einfachere, darum der letzteren vorzuziehen, wenn nicht weitere Gründe für diese sprechen; bei der akosmistischen These liegt also die Beweispflicht.
Aber das zeigt nur, daß die These von der Existenz der Materie im Zweifelsfall vorzuziehen ist, nicht aber, daß sie endgültig richtig ist.
Einen philosophischen Beweis versucht René Descartes in seinen Meditationen: der Mensch ist von Gott so geschaffen, daß er selbstverständlich die materielle Welt als real existierend wahrnimmt; und da Gott nicht täuscht, existiert sie tatsächlich real: «Cùm enim ... mihi dederit ... magnam propensionem ad credendum illas a rebus corporeis emitti, non video quâ ratione posset intelligi ipsum non esse fallacem, si aliunde quàm a rebus corporeis emitterentur. Ac proinde res corporeae existunt.» (VI.10).
Hume freilich tut dieses Argument für seine These leichthin ab – es würde ja die Existenz Gottes implizieren, die er nicht als notwendig gegeben anerkennen will. «Wenn jenes Wesens Wahrhaftigkeit hier überhaupt betheiligt wäre, so müssten unsere Sinne ganz untrüglich sein, weil es ja auch nicht einmal betrügen darf» (XII.1) – ein Gegenargument, das in den Meditationen schon gut hundert Jahre zuvor Descartes ausführlich widerlegt hat; so etwa schreibt er: «quòd Deus non sit fallax, quòdque idcirco fieri non possit ut ulla falsitas in meis opinionibus reperiatur, nisi aliqua etiam sit in me facultas a Deo tributa ad illam emendandam» (VI.11).
Berkeley aber wendet Descartes’ Argument einfach um: die Vorannahme der Existenz von Materie verstrickt uns «in seltsame, von der gewöhnlichen Meinung abweichende Behauptungen, Schwierigkeiten und Widersprüche» (I.). «Man sollte doch denken, dass Gott nicht so ungütig gegen die Menschenkinder verfahren sei, diesen ein lebhaftes Verlangen nach einem Wissen einzuflössen, welches er ihnen zugleich völlig unerreichbar gemacht hätte» (III.). Und all diese Schwierigkeiten und Widersprüche würden beseitigt, wenn wir nur keinen «unrichtigen Gebrauch» von den «Anlagen unseres Geistes» mehr machten, indem wir Materie voraussetzten.
Ich meine jedoch, Descartes hat recht. Die Existenz von Materie anzunehmen, erscheint mir nicht mit Berkeley als willkürlicher Vernunftgebrauch, sondern mit Descartes als eine dem Menschen gegebene natürliche Neigung. Ein zweifelsfreier Beweis ist das jedoch immer noch nicht: «fieri non possit ut ulla falsitas in meis opinionibus reperiatur, nisi aliqua etiam sit in me facultas a Deo tributa ad illam emendandam» schreibt Descartes; Berkeley könnte sagen, in seinem Werk habe er die Fähigkeit des Menschen aufgezeigt, jene Täuschung, Materie würde existieren, zu berichtigen.
Ein wirklicher philosophischer Beweis für die Existenz von Materie, der ebenso zwingend wäre wie der Beweis der Existenz meiner selbst oder der Existenz Gottes, ist nicht zu erkennen. Es bleiben aber theologische Beweise, derentwegen ich von der Existenz der Materie ausgehe.
Der Schöpfungsbericht der Genesis beginnt mit: «In principio creavit Deus caelum et terram» (1, 1). So steht also bei der Schöpfung die Materie am Anfang; das Konzil von Florenz bestätigt das, indem es definiert: «.. omnium visibilium et invisibilium creatorem, qui, quando voluit, bonitate sua universas, tam spirituales quam corporales, condidit creaturas» (Bulla «Cantate Domino», Decretum pro Jacobitis). In der Genesis folgt später: «Formavit igitur Dominus Deus hominem de limo terrae et inspiravit in faciem eius spiraculum vitae, et factus est homo in animam viventem» (2, 7). Auch bei der Erschaffung des Menschen steht also die Materie, der Leib mit am Anfang – besonders in der lateinischen Fassung klingt dieser Schöpfungsakt geradezu aristotelisch; das Konzil von Vienne definiert dementsprechend: «.. quisquis deinceps asserere, defendere seu tenere pertinaciter praesumpserit, quod anima rationalis seu intellectiva non sit forma corporis humani per se et essentialiter, tanquam haereticus sit censendus» (Constitutio «De summa Trinitate et fide catholica», Errores Petri Joannis Olivi) – bemerkenswerterweise ein Dogma, das die aristotelische Philosophie voraussetzt.
Die Philosophie kann also die Frage nach der Existenz von Materie nicht beantworten; es ist erst die christliche Theologie, die sie bezeugt.
Welche Philosophie aber kann dann der modernen Physik standhalten?

Die Lösung: Die Philosophie für die Zukunft

Schon etwa vier Jahrzehnte zuvor hatte es geheißen, materielle Partikeln seien eigentlich nur mathematischen Formeln; Dürr sagt heute, es gebe nur Information.
Die Tendenz der physikalischen Ergebnisse ist also deutlich; aber mathematische Formeln kann man in beliebiger Menge bilden, ohne daß aus ihnen je eine Wirklichkeit entstünde; Informationen sind wirkungslos, wenn nichts und niemand da ist, der oder das informiert würde.
Es muß also etwas geben, worauf sich diese Formeln, diese Informationen – diese «Wirks», wie Dürr sie zu nennen beliebt – auswirken können.
Formeln oder Informationen – fassen wir das einmal zusam­men als «Formen». Es gibt ja die Wirklichkeit, es gibt also etwas, worauf diese Formen sich auswirken. Aber dieses Etwas können die Physiker nicht spezifizieren, sie können es nicht qualifizieren noch quantifizieren – ein Grauen für das moderne Denken –; dieses Etwas ist demnach, auf Latein, «nec quid nec quale nec quantum».
«Nec quid nec quale nec quantum» – das aber ist die Schuldefinition der Materies prima des Aristoteles (Berkeley spricht einmal von «jenem antiquirten und so viel verlachten Begriff einer materia prima» [XI.]). Wer nicht zu Berkeleys Akosmismus Zuflucht nehmen will, findet also die Philosophie, die dem Forschungsstand der modernen Naturwissenschaft gerecht wird, bei Aristoteles (384 – 322), in seinem System von der Materies prima und den Formen.

Literatur:

George Berkeley: Treatise concerning the principles of human knowledge. In's Deutsche übersetzt von Friedrich Ueberweg: Abhandlung über die Principien der menschlichen Erkenntnis. Berlin 1869 (Philosophische Bibliothek, Bd. 12).
René Descartes: Meditationes de prima philosophia, in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstratur. Paris 1641. Bibliotheca Augustana [http://www.hs-augsburg.de/~harsch/ Chronologia/Lspost17/Descartes/des_med0.html]
Hans-Peter Dürr: Welt- und Menschenbilder in Naturwissenschaft und Religion.
Vortrag, Katholische Akademie Hamburg, 21.3.2007
Die wörtlichen Zitate sind einem Interview entnommen:
Physik & Philosophie – Am Anfang war der Quantengeist. P.M. Magazin 05/2007. http://www.pm-magazin.de/de/ heftartikel/ganzer_artikel.asp?artikelid=1944
Thomas Hobbes: Elementorum philosophiae. 1. London 1655; 2. London 1658; 3. Paris 1642. Übersetzt von Max Frischeisen-Köhler: Grundzüge der Philosophie. Leipzig 1949; 1918 (Philosophische Bibliothek, Bd. 157; 158)
David Hume: An enquiry concerning human understanding. In: Essays and Treatises on Several Subjects, 2. Vol., London 1758. Übersetzt von Julius Heinrich von Kirchmann: Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Berlin 1869 (Philosophische Bibliothek, Bd. 13)

Die Zitate aus der «Philosophische Bibliothek» sind übernommen aus: Standardwerke der Philosophie. Digitale Bibliothek, Berlin 2005

Orietur Occidens

E&E 17 S.35-38  2012
Wilfried Hasselberg-Weyandt

Triumphus stultitiae
Der Triumphzug der Dummheit

III. Interview mit einem intelligenten Atheisten

Herr NN., Sie sind Atheist, stören sich aber an der Dummheit des heute verbreiteten Atheismus?
Der Atheist: Ja! Ständig bezeichnen sich Menschen als Atheisten, und in Wirklichkeit vertreten sie einen Kryptotheismus. Anmerken muß ich freilich, daß ich mich jetzt in der Mythologie des Atheismus bewege, noch nicht wirklich atheistisch rede.
Mythologie des Atheismus – was heißt das?
Der Atheist: Gedulden Sie sich bitte noch ein wenig; ich werde noch etwas ausholen müssen, um das klar zu machen.
Gut; dann erklären Sie bitte, was Sie unter Kryptotheismus verstehen!
Der Atheist: Ich unterscheide einen einfachen Kryptotheismus und einen Kryptotheismus zweiter Ordnung. Einfacher Kryptotheismus ist es, wenn mit beseelten Menschen, überhaupt beseelten Wesen gerechnet wird. Eine Seele als Trägerin des Bewußtseins, des Willens: woher sollte sie kommen können? «Nemo dat, quod non hat» heißt es zu Recht. Wer eine Seele annimmt, muß entweder ihr selbst göttliches Wesen zuschreiben – sie existiere aus sich selbst – oder für sie einen Schöpfer voraussetzen, der selber über die Eigenschaften verfügt, die er ihr vermittelt – also wiederum: ein göttliches Wesen.
Nun geht aber kaum ein heutiger Atheist von der Existenz immaterieller Seelen aus. Der moderne Atheist ist Materialist; das Seelenleben betrachtet er als Epiphänomen materieller Vorgänge.
«in sich gar nicht existiert»:
nicht als eigenes Wesen,
als Entität
Der Atheist: Dies nenne ich Kryptotheismus zweiter Ordnung. Welch absurde Vorstellung: da wäre ein bewußtes Wesen, das die Welt bewußt wahrnimmt, aus diesen Wahrnehmungen schließt, daß es nur das gibt, was es wahrnimmt, die Materie eben, daß es selber aber in sich gar nicht existiert, nur als äußerer Schein vorhanden ist. Und aus dieser Vorstellung, daß es selbst eigentlich gar nicht existiert, macht dieses Wesen eine Weltanschauung, die es mit Eifer propagiert. Soll ich jemandem glauben, der mir klar machen will, daß es zwar nicht ihn selbst gibt, wohl aber das, was er wahrzunehmen meint, daß seine Schlüsse aus seinen vorgeblichen Beobachtungen rational seien, obwohl er selber gar nicht existiert?
Vorhin sagten Sie: Wer eine Seele annimmt, muß ihr entweder göttliches Wesen zuschreiben oder für sie einen Schöpfer voraussetzen. Das klingt nach dem traditionellen kosmologischen Gottesbeweis – und der aus dem Mund eines Atheisten?
Der Atheist: Wohlbedachter Atheismus darf nicht achtlos in die Falle des wohlbekannten Gottesbeweises gehen; oder, etwas förmlicher formuliert, er darf nicht die Voraussetzung anerkennen, unter der der Gottesbeweis greift – darum muß ihn der Atheist vor Augen haben.
Aber sind die Gottesbeweise nicht längst von Kant widerlegt?
Der Atheist: Kant versucht, den «kosmologischen» Gottesbeweis, um den allein es geht, auszuhebeln, indem er ihn unter die «Blendwerke im Schließen» zählt. Doch es ist Kant selber, der da ein Blendwerk in Szene setzt: er fordert dem kosmologischen Gottesbeweis als scheinbar selbstverständlich das Beweisthema des ontologischen Gottesbeweises ab, den Beweis nämlich eines «schlechterdingsnotwendigen» Wesens – und zu diesem Thema muß dann eben der ontologische Beweis mit herangezogen werden, der in der Tat unzureichend ist, wie Kant dann bekrittelt1. Doch der kosmologische Gottesbeweis postuliert nichts «Absolutnotwendiges», sondern absolutes Sein, sagt also einfach, daß, wenn es etwas gibt, es dann auch etwas geben muß, was von nichts anderem verursacht worden ist, was also «a se», aus sich selbst existiert.
Sonderbarerweise fügte Kant die Erklärung hinzu, daß es nicht berechtigt sei, «von der Unmöglichkeit einer unendlichen Reihe über einander gegebener Ursachen in der Sinnenwelt auf eine erste Ursache zu schließen». Was besagt diese Unmöglichkeit denn sonst? In der Tat kann es, wie Kant auch an anderer Stelle feststellt2, keinen «Regressus in infinitum», keinen unendlichen Regreß geben – mathematisch eine Selbstverständlichkeit: Unendlich ist keine Zahl, eine Folge kann zwar ins Unendliche weiterschreiten, aber keine unendliche Zahl von Vorgängern zur Voraussetzung haben – als sei dies das unendlichste Glied, und dann folgte das unendlich-plus-erste: mathematischer Unfug.
Kant schien zu ahnen, worum es im kosmologischen Beweis eigentlich geht; darum verwahrt er sich mit dieser Erklärung gegen diesen eigentlichen Beweis. Doch eine Erklärung ist kein Argument; sie zeigt nur, daß Kant weiß, daß seine „Widerlegung“ nicht den eigentlichen kosmologischen Beweis trifft und daß er dagegen kein wirkliches Argument hat.
Also, auch wenn Kant es zu vernebeln sucht: in einer Reihe von Ursachen gibt es notwendigerweise eine erste Ursache; wenn es etwas gibt, gibt es notwendigerweise etwas, was von nichts anderem verursacht ist: das «ens a se» des traditionellen Gottesbeweises.
Wie nun soll es der Atheismus anstellen, nicht in die Falle des Gottesbeweises zu gehen?
Der Atheist: Die Antwort hat schon Georgias gegeben: Es gibt nichts. Und wenn er hinzufügte: «Und gäbe es doch etwas ...» und «Und wäre es doch ...», so sind das Spielereien, die nur zeigen, wie unsinnig der Versuch einer Widerlegung wäre.
Das nun ist die Grundlage eines folgerichtigen Atheismus: Es gibt nichts. Und nun verlasse ich die Mythologie des Atheismus: weil es nichts gibt, nie etwas gegeben hat, hat es natürlich auch Kant, auch Gorgias nicht gegeben.
Also ist alles Illusion?
Der Atheist: Es gibt keine Illusionen. Es gibt nichts, also auch niemanden, der sich Illusionen machen könnte.
Es ist also schlicht ein Irrtum, wenn ich denke, es gäbe mich.
Der Atheist: Damit tappen Sie in die Falle, die Descartes dem Atheismus zu stellen suchte – aber jetzt bin ich wieder in die Mythologie des Atheismus geraten. Sei’s drum: wenn Sie sich irrten, hieße das, Sie dächten, wenn Sie dächten, hieße das, es gäbe Sie: «Cogito, ergo sum.» Dann – ich wiederhole mich: dann gäbe es auch ein göttliches Wesen, das Sie geschaffen hat, oder Sie selber wären göttlich. Gut atheistisch ist festzustellen: es gibt Sie nicht, darum denken Sie auch nicht, darum irren Sie auch nicht.
Und was ist dann mit diesem Interview?
Der Atheist: Es gibt kein Interview. Es gibt Sie nicht, es gibt mich nicht, also gibt es auch kein Interview.
Also: es gibt nichts – und Ende?
Der Atheist: Es gibt kein Ende, denn es gibt nichts, was ein Ende haben könnte.

1 Kant: Kritik der reinen Vernunft. I. Transzendentale Elementarlehre / Der transzendentalen Elementarlehre zweiter Teil: Die transzendentale Logik / Der transzendentalen Logik zweite Abteilung: Die transzendentale Dialektik / Der transzendentalen Dialektik zweites Buch: Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft / Des zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik drittes Hauptstück: Das Ideal der reinen Vernunft / Des dritten Hauptstücks fünfter Abschnitt: Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes.
2 Ganz ausdrücklich in Der transzendentalen Dialektik zweitem Buch: Zweites Hauptstück: Die Antinomie der reinen Vernunft / Der Antinomie der reinen Vernunft zweiter Abschnitt: Antithetik der reinen Vernunft / Erster Widerstreit der transzedentalen Ideen.

Orietur Occidens

E&E 20 S.2-6 2015 
Wilfried Hasselberg-Weyandt

Miscellanea über Glauben und Wissen, Natur und Bewusstsein

Glaube und Wissen

Glauben heiße: nicht wissen, so eine verbreitete Redensart. Was aber ist die Wirklichkeit?
„Glauben“ bedeutet an dieser Stelle „fest für wahr halten“. Der geistliche Begriff des Glaubens geht allerdings weit darüber hinaus. Das lateinische „credere“ wird etymologisch gerne als „das Herz geben“ gedeutet; etwas prosaischer kann man „glauben“ als „sich anvertrauen“ erklären. Hier in dieser Erörterung allerdings geht es nur um jenen oberflächlichen Begriff des Glaubens – der ja auch einmal zumindest im Neuen Testament auftaucht, in Jac. 2, 19.
Als sicherstes, exaktestes Wissen (sofern man dem Wort «exakt» einen Superlativ zugesteht) gilt das der Mathematik. Alles, jeder Satz wird logisch bewiesen.
Natürlich gilt diese Exaktheit nur mit Vorbehalt. Ganz trivial: wenn ich «q.e.d.» schreibe, muß ich mich noch erinnern können, was ich beweisen wollte, oder, wenn ich den Beweis schriftlich vor mir habe, muß meine Aufmerksamkeitsspanne ausreichen für den Satz, um den es geht, und den Beweis.
Mathematische Beweisführung setzt folglich den Glauben an das menschliche Gedächtnis und an die Konsistenz des Denkens voraus.
Sodann beruht jeder Satz, jeder Beweis auf Begriffen. Begriffe sollen für die Beweisführung definiert sein. Doch zur Definition von Begriffen bedarf es wiederum anderer Begriffe; es muß folglich erste Begriffe geben, die nicht mehr definiert werden können, sondern verstanden werden müssen.
Aber gehen wir davon aus – andernfalls würden wir die Gültigkeit jedweden Denkens verneinen –, daß die Mathematik wirklich exakte Ergebnisse bietet.
Doch um Sätze zu beweisen, bedarf es anderer Sätze, wenn vorhanden, schon bewiesener. Doch am Beginn allen Beweisens können logischerweise keine bewiesenen Sätze stehen. Es bedarf anderer Sätze, die als sicher wahr gesetzt werden, es bedarf der Axiome.
«Wenn nun das Wissen so ist, wie ich hier angenommen habe, so muss nothwendig die beweisbare Wissenschaft aus Sätzen hervorgehen, welche wahr sind, und welche die ersten und unvermittelt und bekannter und früher sind, und welche die Gründe für den Schlusssatz sind; denn so werden sich auch die eigenthümlichen obersten Grundsätze für das Bewiesene verhalten», so Aristoteles1. Axiome nennt er jene «eigenthümlichen obersten Grundsätze» (archaì oikeîai), jene Prinzipien, die «der, welcher irgend etwas lernen will, ... nothwendig innehaben muss».
Also beruht jeder Beweis auf der Voraussetzung unbewiesener, aber sicher wahrer Sätze; alles, was man weiß, weil es bewiesen ist, beruht auf Sätzen, deren Wahrheit man als sicher bewertet, mit anderen Worten: an die man glaubt. Kurz: jedes Wissen beruht auf Glauben.
Den Fundamentaltheologen überlassen bleibe hier die Frage, was für den Glaubenden und im besonderen den christlich Glaubenden die Axiome sind, die seinem geistlichen Wissen zugrunde liegen.

Naturwissenschaft 

Wissenschaft beschreibt ein System von Phänomenen; ihre Ergebnisse gelten nur, wenn nichts von außen in dieses System eindringt – es sei denn, man beziehe zusätzlich dieses Äußere in das System ein. Man kann den Wellengang etwa auf einem See durch topographische Gegebenheiten, Strömung und Wind beschreiben (wenn man grob genug beobachtet, so ist der Wellengang dadurch determiniert; betrachtet man freilich die Feinheiten, so entzieht er sich der genauen Berechenbarkeit). Fällt aber ein Stein ins Wasser, so ändert sich alles; und eine Berechnung ist nun unmöglich, solange man den Körper, der von außen kommt, nicht in die Berechnung einbezieht.
Menschliche Artefakte lassen sich bei Funden im Boden in der Regel sicher als solche erkennen. Ihre Herstellung entspricht den Naturgesetzen; und dennoch reichen die Naturgesetze nicht aus, ihre Entstehung befriedigend ohne menschliches Zutun zu erklären.
So wie die Naturwissenschaft nicht dem entgegensteht, daß Fremdkörper in ein lokales System eindringen und die Verhältnisse verändern können, wie sie nicht dem entgegensteht, daß Menschen die natürlichen Gegebenheiten verändern können, so kann sie nicht dem entgegenstehen, daß ein Einfluß von außen in unseren Kosmos eingreift, daß etwa der Schöpfer ein Wunder tut.
Der Schöpfer: kann nicht die Naturwissenschaft den Kosmos aus sich selbst erklären? Da ihre Gesetze Eigenschaften des Kosmos sind, setzen sie den Kosmos voraus und können ihn folglich nicht ursächlich erklären.
Wollte man aber behaupten, der Kosmos existiere aus sich selbst, so erklärte man ihn zum ens a se, also für göttlich.

Wunder

Wunder wahrzunehmen stellt drei Voraussetzungen ans Weltbild:
I. Es muß naturwissenschaftlich sein, von Naturgesetzen ausgehen. Erkennte man solche nicht an, betrachtete man etwa, wie gewisse Strömungen des Islam, regelmäßiges natürliches Geschehen nur als Gewohnheiten Gottes, so wäre es sinnlos, ein bestimmtes ungewohntes Geschehen als Wunder herauszuheben.
II. Es muß Transzendenz kennen. Geschehnisse, die nicht den Naturgesetzen entsprechen, wären, wenn es niemanden außerhalb der Natur gäbe, der da handeln könnte, verblüffend, aber keine Wunder.
III. Es muß empirisch sein. Ginge man von Naturgesetzen aus, ohne die Empirie ihnen voranzustellen, so hätte man folgerichtig Geschehnisse, die ihnen nicht entsprechen, ohne weiteres zu leugnen.

Natur, Bewusstsein und Willensfreiheit

Die Inhalte menschlichen Denkens und ihre geistige Verarbeitung vermag die Naturwissenschaft mehr oder weniger gut zu erklären – der Computer bietet ein Analogon –, ebenso die emotionale Färbung. Darum suchen materialistische Denker, das Bewußtsein zu erklären, indem sie es auf Bewußtseinsprozesse reduzieren (wozu freilich das Wort „Bewußtsein“, ein substantiviertes Verbum, einlädt). Doch das Eigentliche des menschlichen Bewußtseins ist etwas anderes: das Ich, das Selbst, die Seele, das Subjekt, das dieser Inhalte gewahr wird, diese Emotionen fühlt.
Dieses Subjekt entzieht sich materialistischer Deutung. Es ist die Voraussetzung, der notwendige Träger von Willensfreiheit. Darum wird von Materialisten, besonders von Hirnforschern, den „Neuromythologen“ nach der Formulierung eines kundigen und kritischen Hirnforschers2, die Willensfreiheit bestritten, an ihre Stelle werden physiologische Prozesse des Gehirns gesetzt.
Nehmen wir einmal im Sinne des Materialismus das Unmögliche an: Das Bewußtsein wäre ein Produkt des Gehirns, herausgebildet im Sinne der (aufs Geistige ausgeweiteten) Evolutionstheorie durch Mutation und Selektion; Willensfreiheit gäbe es nicht.
Nehmen wir das einmal an: Welch ein Aufwand wäre das wohl, Bewußtsein hervorzubringen – und das zu keinem evolutionären Zweck: ein Bewußtsein, das keine Willensfreiheit hätte, das das Verhalten nicht steuern könnte, nur passiver Zuschauer wäre, solch ein Bewußtsein wäre funktionslos, brächte keinen Überlebensvorteil.

1 Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Übersetzung durch Julius Heinrich von Kirchmann von 1877. Leipzig [o.J.]. 1. Buch, 2. Kap., § 2 / § 3. (Paragraphenzählung nach:) Aristotelis opera, hg. von I. Bekker, Berlin 1831 ff.
1 Felix Hasler: Neuromythologie / Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Bielefeld 2012

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• Gehirn und Geist •

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