Gerechtigkeit, Freiheit und die Ideologien dieser Zeit

• Gerechtigkeit •

• Ist der Kult des «Freien Marktes» Götzendienst? •

• Szenen aus der Geistesgeschichte des Wirtschaftsliberalismus •

• Freiheit •

• Ein Heiliger zündelt •

• Das Zusammentreffen der gegensätzlichen Ideologien •

E&E 18 S.15-45  2013

Eine Verschwörung ohne Verschwörer

Da ist die liberale „Rechte“, die als zentrales Prinzip die Habsucht anpreist – welche im Sinne des heiligen Paulus (Eph. 5, 5) Götzendienst ist –, die sie, gut mephistophelisch, als eine Kraft vorspiegelt, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Da ist die „Linke“, die ihr eigentlich wohl vorhandenes philanthropisches Anliegen früher überschüttete mit Träumen von blutiger Revolution und totaler Staatswirtschaft, mit militantem Atheismus und Antiklerikalismus, heute, nachdem die leninistischen Träume verflogen sind, sich die „political correctness“ als Spielwiese zuweisen läßt, womit sie dreifach der marktliberalen Rechten entgegenkommt: sie macht sich unglaubwürdig bei allen, die sich den „politisch korrekten“ Gedankenkapriolen verweigern; sie lenkt ihre Engagement ab von ihrem eigentlich wohl immer noch vorhandenen philanthropischen, sozialen Anliegen; sie fördert mit ihrer Religionsfeindlichkeit den Konformismus mit Modeideologien, mit der „politisch korrekten“ Aufweichung der Familie die Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Daher der folgende Text.

W.H.W

Orietur Occidens

Wilfried Hasselberg-Weyandt

Das Zusammentreffen der gegensätzlichen Ideologien

«Coincidentia ideologiarum oppositarum» hatte ich zunächst geschrieben; doch auch wenn ich nicht Nikolaus von Kues anhange, so sorgte ich mich doch, es könne blasphemisch klingen. Darum nun der Titel auf Deutsch.
Hier soll die geistesgeschichtliche Situation in den Blick genommen werden, in der es zu jener abwegigen Entwicklung kam, die zur heutigen Bekämpfung der Menschlichkeit von scheinbar entgegengesetzten Positionen aus führte. Die Entwicklung verlief in West- und Mitteleuropa, in Nord- und Südamerika mehr oder weniger ähnlich. Dennoch ist sie hier vor allem im Blick auf Deutschland dargestellt, weil sie hier für Autor und Leser am deutlichsten vor Augen steht – um den Preis, daß bei der Darstellung der Geschichte die globalen maßgeblichen Faktoren ein wenig in den Hintergrund treten.
Einiges in diesem Text ist ohne weiteren Verweis den „Moralia“1 entnommen (als deren Autor habe ich mir die ausdrückliche Genehmigung dazu gegeben; sie seien auch zur Vertiefung empfohlen.

Vorgeschichte: Der Nationalismus

Seit der fortgeschrittenen Aufklärung wurde der christliche Glaube im öffentlichen Leben immer mehr zurückgedrängt; so fanden nun wechselnde Ideologien freie Bahn.
Seit der Französischen Revolution hatte sich ein aggressiver étatistischer Nationalismus in Europa verbreitet. Hatte es bis dahin in Frankreich geheißen: «un roy, une foy, une loy», so hatte doch die Kultur, hatte die Sprache der einzelnen Nationalitäten im Königreich unbeschädigt fortbestehen dürfen. Unter der neuen nationalistischen Staatsideologie änderte sich das gründlich (bis heute: immer noch werden die nichtfranzösischen Nationalitäten unterdrückt).
Durch die napoleonischen Kriege flammte auch in Deutschland Nationalismus auf. Die Staaten suchten ihn anfangs zurückzudrängen, doch mit der Gründung des preußisch-deutschen Reichs 1870 wurde er auch hierzulande, in sehr militaristischer Form, zu einer Art von Staatsideologie. In der Weimarer Republik wurde er zwar von der offiziellen Politik abgemildert, aber er bestand weiter, verschärft noch durch die Kränkung durch die Niederlage im I. Weltkrieg.
Es kam zur Weltwirtschaftskrise, die ihre volle Gewalt bekam durch die marktliberale Politik der meisten Staaten; während sich die USA davon abkehrten und durch den „New deal“ die Krise bewältigten, versuchte die deutsche Regierung, sie mit liberaler Wirtschaftspolitik zu meistern. Das, verbunden mit unzureichender Sozialgesetzgebung, führte dazu, daß in Deutschland nun ein Nationalismus von mörderischer Ausprägung die „Macht ergreifen“ konnte. Der führte, mit einem kleinen Umweg über wirtschaftliche Erholung, zur Katastrophe des II. Weltkriegs.
Danach änderte sich vieles. Im Osten Deutschlands – ähnliches geschah im übrigen Osten Europas, war schon seit fast drei Jahrzehnten in der Sowjetunion in Kraft – trat an die Stelle der nationalsozialistischen Staatsideologie die sozialistische, die „marxistisch-leninistische“.
Die Markt-
wirtschaft
Im Westen Deutschlands änderte sich noch mehr: man orientierte sich hier an der Weimarer Republik. So wurde hier auch die Konfessionsschule als Regelschule wiederhergestellt. Aber man sah auch die Notwendigkeit von Verbesserungen, um zu vermeiden, daß künftige Krisen wieder zu solchem Unglück führten. So kam es zur „sozialen Marktwirtschaft“.
Im XIX. Jahrhundert hatte – lange Zeit, vielerorten, besonders aber von Großbritannien aus ins Werk gesetzt – ein mörderischer2 malthusianisch verschärfter Marktliberalismus regiert. Er war im Laufe des Jahrhunderts von Frankreich (unter Napoleon III.), dann von Deutschland (unter Bismarck) aus durch Sozialgesetzgebung, vor allem durch Sozialversicherungen, abgemildert worden. Papst Leo XIII. hatte ihn in die Schranken gewiesen durch seine große Enzyklika „Rerum novarum“, vierzig Jahre später von Papst Pius XI. bekräftigt und weitergeführt durch „Quadragesimo anno“.
Die „sozialen Marktwirtschaft“ nahm marktliberales Gedankengut wieder auf, aber ohne die malthusianische Komponente; sie führte die Sozialgesetzgebung Napoleons III. und Bismarcks weiter, ließ sich von der katholischen Soziallehre beeinflussen.
Es gelang. Fortan herrschte ein zuvor kaum gekannter sozialer Friede, fast allgemeiner Wohlstand. Marktliberale Ideologie wurde weitergepflegt. In der Schule lernte man, daß die Preise durch Angebot und Nachfrage geregelt würden. Daß es in Wirklichkeit nicht so einfach ist, wirtschaftliche Macht dabei auch von Bedeutung ist, schwante mir schon damals. Man lernte, daß die dirigistischen Eingriffe Diokletians in die Wirtschaft zu einer schweren Krise führten; daß sie in der Folge nur ein wenig modifiziert wurden und dann dem oströmischen Reich über viele Jahrhunderte beachtlichen Wohlstand, Bestand über mehr als ein Jahrtausend schenkten, das lernte man nicht.
Aber noch richteten diese ideologischen Verzerrungen wenig Schaden an. Man scheute direkte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft wie der Teufel das Weihwasser; aber immerhin: Preise wurden zwar nicht kontrolliert, Preisabsprachen jedoch (wenn auch wohl mit mehr Aufwand als Wirkung) verboten; Fusionskontrolle (kraft des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“!) sollte die Ansammlung wirtschaftlicher Macht beschränken (offenbar wußte man doch, daß die Preise nicht nur durch Angebot und Nachfrage geregelt werden).
Bedrohlich erschien der Ostblock mit seinem brutalen Kommunismus einerseits, seiner militärischen Macht andererseits. Man begann alle Politik unter dem Gegensatz „kapitalistisch“ – „kommunistisch“ zu sehen. Damit entsprach man dem Sprachgebrauch der Gegenseite, von der alles, was sich nicht ihrem System unterwarf, „kapitalistisch“ (und gern auch „faschistisch“) genannt wurde. Daß man dieser Dichotomie nach jeden Kötter auf dem Land, jeden selbstständigen Schuster, jeden Eisverkäufer und sonstigen Bauchladenhändler als „Kapitalisten“ einordnen muß, war freilich recht offensichtlich recht wunderlich.

Die „68er“

Aber auch unter der „sozialen Marktwirtschaft“ wurden die wirtschaftlichen Mächte stärker, zunehmende Entmachtung des Staates drohte. Jean Jacques Servan-Schreibers Buch „Die amerikanische Herausforderung“ brachte das Problem in eine breite Öffentlichkeit.
Es kam damals, in Deutschland öffentlichkeitswirksam seit 1967, zu einer Gegenbewegung, der „Neuen Linken“, den „68ern“. Diese hatten zum Teil durchaus soziale Anliegen; doch sie diskreditierten sich selbst durch die Übernahme marxistisch-leninistischer Ideologie, teilweise in direkter Obödienz zu der einen oder anderen der großen kommunistischen Mächte.
Der marxistisch-leninistischen Revolutionsschwärmerei entsprechend hatten sie eine sehr aggressive Seite – «Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben» stand auf einem Plakat einer einschlägigen Studentengruppe, unter den Portraits von Marx, Engel, Lenin, Stalin und Mao.
Und so kam es recht schnell zu beträchtlicher Gewalt, von linksrevolutionärer Seite gegen Polizei, gegen Kommilitonen, die andere Positionen vertraten, gegen parkende Autos, die man gern einmal für den revolutionären Straßenkampf brennen ließ. Dadurch wurde auf der anderen Seite ähnliche Aggressivität erzeugt: Polizisten und gutbürgerliche Passanten wurden gewalttätig gegen linke, auch gegen friedliche linke Demonstranten. Die Atmosphäre zwischen den Lagern war vergiftet; das leistete weiterer Radikalisierung der Linken Vorschub.

Einige andere Züge gehörten zum Bild der 68er:

Als Reaktion auf die Schrecken des Nationalsozialismus war Ablehnung gegen alles Nationale entstanden; sie wurde von der 68ern aufgenommen, artete bei ihnen gerne auch einmal zu einem negativen Nationalismus aus, zur Anfeindung der eigenen Nation.
In der Kaiserzeit waren Frauen Männern gegenüber im öffentlichen Leben wie im Familienrecht sehr benachteiligt (was natürlich nicht ausschloß, daß in den wirklichen Familien Männer genau so häufig unterm Pantoffel standen wie heutzutage). Als Reaktion darauf entstand der Feminismus. In der Bundesrepublik wurde diese Benachteiligung abgebaut. Doch noch in den sechziger Jahren war etwa ein Studium für Frauen entsprechender Begabung, entsprechender Schulbildung nicht ebenso selbstverständlich wie für Männer. So hatte sich der Feminismus noch keineswegs erübrigt. Auch er wurde von der 68ern aufgenommen.
Atheïsmus – Antiklerikalismus – Laïzismus
Militanter Atheïsmus im Geiste von Karl Marx, militanter Antiklerikalismus im Geiste Lenins gehörte zum Standardprogramm der „Neuen Linken“. Es gab wohl christliche Anhängsel der Bewegung, die den Atheïsmus so nicht übernahmen, aber doch den Antiklerikalismus. Laïzismus – Ablehnung der Besonderheit der Kirche gegenüber Staat und Privatsphäre, Zurückdrängen ihrer Stimme aus dem öffentlichen Leben – wurde Programm.
Bildungsfeindlichkeit
Die „68er“ waren großenteils eine Bewegung von Studenten, eine gewisse Bildung war unter ihnen demnach verbreitet. Nichtsdestoweniger herrschte unter ihnen Ablehnung von Bildung (soweit es nicht um das Studium der Schriften Karl Marx’ und seiner Epigonen ging). Am meisten richtete sich diese Ablehnung gegen die Schule, gegen die gymnasiale Bildung.
Seit der Abschaffung des Schulgeldes stand das Gymnasium allen Bevölkerungsschichten offen. Der Protest richtete sich gegen Leistungsbewertung; die Frage, ob nach der Schulzeit ein Leben ohne Leistungsbewertung weitergeführt werden könne, wurde in diesem Zusammenhang nicht gestellt.
Und gegen die reine, nicht praktisch begründete Bildung ging es. Die alten Sprachen, die (gemeinsam mit dem Mathematikunterricht in der damals selbstverständlichen Gründlichkeit) zu vertieftem Sprachverständnis heranbildeten, waren das bedeutsamste Opfer.
Familienfeindlichkeit und Abtreibung
Seit Lykurg – oder, genauer, seit der Rezeption Lykurgs (in der Darstellung Plutarchs) durch die politische Philosophie – ist Kollektiverziehung verbreitet in kommunistischen Gesellschaftsentwürfen. Auch in marxistisch gesonnene Gruppierungen fand dieser Punkt Einlaß; in seinen „Sozialdemokratischen Zukunftsbildern: Frei nach Bebel“ (Berlin 1893), welche zu verwirklichen die SED sich später bemühte, stellte Eugen Richter bereits die Familienfeindlichkeit der Sozialisten seiner Zeit dar. In den „Volkskommunen“ verwirklichte das maoistische China massive Unterdrückung der Familien – und diese Kommunen wurden zum Ideal weitester Kreise der „Neuen Linken“.
Ablehnung von Privatleben ergänzte die Familienfeindlichkeit, Arbeit und Freizeit sollten nicht mehr getrennt sein. Darin schwang die marxistische Vorstellung von der Gesellschaft vor dem Sündenfall der Arbeitsteilung mit. Doch verbunden damit wurde die Forderung, alles habe politisch zu sein; jedweder Lebensbereich, der sich den gesellschaftlichen Forderungen entzog, wurde abgelehnt.
Kehrseite der Familienfeindlichkeit war die „sexuelle Befreiung“, der Abbau aller Regeln für eine kultivierte Sexualität.
Wenn man gelten läßt, daß Linke sich für Arme und Schwache einsetzen wollen (was bei etlichen Linken durchaus der Fall ist), so muß man eigentlich annehmen, daß sie sich auch für die Schwächsten einsetzen, die ungeborenen Kinder, gegen die Abtreibung. Doch in Wirklichkeit war schon in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts das Bestreben nach Legalisierung der Abtreibung unter vielen Linken verbreitet. Unter den 68ern herrschte dieses Bestreben fast uneingeschränkt; die Förderung der Abtreibung paßt zu „sexueller Befreiung“ und antichristlicher Haltung.
Kult der Häßlichkeit
Der typische Linke der „68er“ bekundete seine Gesinnung gern durch leichte Verwahrlosung von Körper und Kleidung. Viele allerdings, Frauen vor allem, entzogen sich dem; unter Männern aber gehörte diese Verwahrlosung fast schon zur Etikette.
Fördern ließ sie sich durch allgemeine Schmuddeligkeit und nikotingelbe Finger, das Insigne extensiven Zigarettenkonsum; alle Regeln, die dem entgegenstanden, waren gefällt worden – natürlich wurde in den einschlägigen Fachbereichen während der Lehrveranstaltungen geraucht.
Anders als 120 Jahre zuvor bei der Märzrevolution gehörte das Rauchen nicht mehr zur Ideologie. «Warum rauchst du?» Die Antwort: «Ich kann nicht anders, ich bin doch auch dem Konsumterror unterworfen.» (Wenn der heutige Leser darin einen Witz sieht: jener linke Raucher sah darin keinen.)
«Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren» war ein Spruch, der unter den 68ern sehr bekannt war und der einiges von ihrer Haltung zeigte: Geringschätzung einer tausendjährigen Geschichte und, mit solcher Geschichtsfeindlichkeit untrennbar verbunden, Bildungsfeindlichkeit. Andererseits Ablehnung von Schönheit – schön nämlich waren diese Talare. Schöne Dinge, Rituale: alles das wurde geringgeschätzt. Ablehnung körperlicher Schönheit, Ablehnung der leiblichen Verbundenheit von Menschen, der Familie eben – all das zeigt die Leibfeindlichkeit der 68er.
«Wenn’s der Wahrheitsfindung dient», sagte ein Protagonist der 68er, als er der Aufforderung, vor Gericht aufzustehen, folgte. Das war als Scherz gemeint, wurde als Scherz verbreitet. Daß Respekt vor dem Gericht in der Tat der Wahrheitsfindung dient, daß dieser Respekt, um wirksam zu sein, des körperlichen Ausdrucks bedarf, war ihm nicht begreiflich.
Und so ist auch in jener Promiskuität, die Kern der „sexuellen Revolution“ war, weniger Freude an der Leiblichkeit des Menschen zu erkennen als vielmehr Geringschätzung des Leiblichen, das Sexuelle erschien als Konsumgut, nicht als Ausdruck einzigartiger menschlicher Nähe.

Der „Neoliberalismus“

Auf einen „Sozialismus mit menschlichem Angesicht“ hoffte man linkerseits 1968, als in der Tschechoslowakei eine neue Regierung an die Macht kam. Daraus wurde nichts; und so begann man auf der anderen Seite Morgenluft auch für einen Kapitalismus ohne menschliches Angesicht zu wittern.
In den Siebziger Jahren begann ein Sturm gegen die „soziale Marktwirtschaft“. 1973 fiel das Abkommen von Bretton-Woods, das mit seinen festen Wechselkursen den Außenhandel befriedet hatte. Im selben Jahr kam in Chile Augusto Pinochet an die Macht, gegen Ende des Jahrzehnts kamen dazu in den großen angelsächsischen Staaten seine Gesinnungsgenossen Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Unter ihnen wurde der „Neoliberalismus“ ins Werk gesetzt, Marktliberalismus, der den Malthusianismus zwar nicht mehr als Vorwand nahm, aber mit anderen ideologischen Vorwänden ebenso menschenfeindlich war 3. Postuliert wurde gemäß den genuinen wirtschaftsliberalen Prinzipien, daß alles wirtschaftliche Handeln im weitesten Sinne, letztlich alles ernsthafte Bemühen auf materiellen Nutzen ausgerichtet sei – eine These, die bemerkenswerterweise mehr als ein Jahrhundert zuvor Karl Marx vom Wirtschaftsliberalismus übernommen hatte mit der griffigen, aber abwegigen Formel: «Das Sein bestimmt das Bewußtsein.» Daraus entsprang die Behauptung, Menschen wollten nur arbeiten, wenn sie dadurch einen deutlichen materiellen Vorteil hätten, wenn also Sozialleistungen für Arbeitslose vergleichbar gering seien. Das begründete Sozialabbau in ähnlicher Weise wie früher der Malthusianismus, es veranlaßte in Deutschland zum Beispiel das „Lohnabstandsgebot“.
Die Wirklichkeit ist anders: der Großteil der arbeitslosen Menschen möchte arbeiten, auch unter ungünstigen Bedingungen, auch bei geringem Lohn.
Natürlich gibt es scheinbare Gegenbeispiele, künstlich erzeugt: Menschen, die vom Arbeitsamt (oder wie es gerade heißt – der Name ändert sich ja hierzulande mit jeder sogenannten Reform) an Stellen geschickt werden, die nicht ihren Fähigkeiten entsprechen; Menschen, die durch lange Arbeitslosigkeit, eine Unzahl ergebnisloser Bewerbungen und Mißachtung durch Behörde und eventuelle Arbeitgeber so entmutigt wurden, daß sie sich nicht mehr zutrauen, eine Arbeitsstelle erfolgreich auszufüllen.
In den Zeiten der „Vollbeschäftigung“, bis in die frühen siebziger Jahre, zeigte sich jedenfalls Arbeitsunwilligkeit oder -unfähigkeit keineswegs als massenhaft auftretendes Problem.
Mit marktliberalen Maßnahmen versprach man, die Arbeitslosigkeit zu senken – natürlich sank sie nicht. Die Reaktion: Opferbeschuldigung – den Arbeitslosen selbst wurde die Verantwortung für ihre Arbeitslosigkeit zugeschrieben. Das wurde zur öffentlichen Meinung, Arbeitslose selber begannen, sich den Vorwurf zu eigen zu machen, die Tatsache, daß es sehr viel weniger offene Stellen gab als Arbeitslose, wurde ignoriert: so wurde deren Demoralisierung, deren Entmutigung vorangetrieben. Noch verstärkt wurde sie durch erhöhten Druck auf die Arbeitslosen, der sich mit die Opferbeschuldigung begründen ließ.
Von kommunistischer Seite war alles, was sich nicht ihrem System unterwarf, „kapitalistisch“ genannt worden. Der Marktliberalismus übernahm das gern, indem er alles „sozialistisch“ nennt, was nicht seinem System entspricht. Die Sozialpolitik, die in den fünfziger und sechziger Jahren angesichts der Erfahrungen der zugrundegehenden Weimarer Republik betrieben wurde, galt seinerzeit auch als konservative Antwort auf die Herausforderung durch das „sozialistische Lager“. In neoliberaler Zeit begann man nun, sie „sozialistisch zu nennen.
„Konservativ“ ist allerdings ein verwirrender Begriff. Er läßt an die Bewahrung von Werten, guten Formen und klassischer Bildung denken, bezog sich aber stets auch auf die Bewahrung des Besitzstandes, im XIX. und frühen XX. Jahrhundert vor allem des Besitzes des Landadels.
Der Abbau sozialer Leistungen wurde so direkt ideologisch begründet. Doch man machte sich auch daran, ihn indirekt zu erzwingen, durch die Macht des Faktischen, indem man – wiederum ideologisch begründet – die Handlungsfähigkeit des Staates beschnitt.
In Deutschland wurde der Neoliberalismus vorangetrieben durch das Gerede vom „Standort Deutschland“, das zu massiven Steuersenkungen führte. Durch die Steuersenkungen sollten Arbeitsplätze geschaffen werden – das geschah natürlich nur wenig, denn was an Steuern eingespart wurde, ließ sich auch anderswo „investieren“: in Rationalisierung (also Arbeitsplatzabbau), in Spekulation auf dem Finanzmarkt. Lange zuvor schon war von John Galbraith die «öffentliche Armut bei privatem Reichtum“ als schweres Problem unserer Zeit moniert worden – die Steuersenkungen erhöhten die öffentlichen Einnahmen natürlich nicht (wenn das auch, natürlich, zuvor versprochen worden war); so wurden Sparmaßnahmen erforderlich. Öffentliche Leistungen wurden reduziert: dadurch fielen Arbeitsplätze weg, die Arbeitslosigkeit verschärfte sich. Sozialleistungen wurden reduziert, die Menschen wurden ärmer. Als Begründung diente die „Globalisierung“; daß die „Globalisierung“ künstlich vorangetrieben wurde, wurde dabei verschwiegen.
Freihandel gehört zum Programm des Marktliberalismus; durch „Liberalisierung“ und „Deregulierung“, durch Freihandelsabkommen, durch damit verbundene Abkommen zum Abbau von „Handelshemmnissen“ und durch die Nutzung der modernen technischen Möglichkeiten wurde die „Globalisierung“ erzeugt. Wiederum wurden, natürlich, Arbeitsplätze dadurch versprochen, wiederum war das Gegenteil die Folge: die Akteure der Wirtschaft konnten zunehmend produzieren, wo es am billigsten ist, wo also die Arbeiter am schlechtesten bezahlt werden und die Arbeitsbedingungen am meisten der Willkür unterliegen. Die Produktion konnte nun global konzentriert werden: die Arbeitslosigkeit stieg. Der Staat wurde entmachtet: die abzubauenden „Handelshemmnisse“ sind die Regelungen, durch die der Staat bisher versuchte, die Interessen der Bevölkerung, der Arbeiter zu schützen.
Dem marktliberalen Postulat, alles ernsthafte Bemühen sei auf materiellen Nutzen ausgerichtet, entsprang die Obsession, privatwirtschaftliches, profitorientiertes Handeln sei stets effizienter als staatliches – was von der Wirklichkeit zügig widerlegt wurde: zwar nicht in allen Bereichen, so führte die „Privatisierung“ doch in vielen, vom Gesundheitswesen bis zur Wasserversorgung, dazu, daß alles teurer und schlechter wurde. Das aber beirrte die Neoliberalen durchaus nicht: für sie zählte, daß neue Bereiche dem Markt überantwortet waren. „Privatisierung“: das heißt kaum je, daß bisher staatliche Aufgaben etwa an selbstständige Handwerker übergeben würden, sondern daß die staatliche, vom Grundsatz her am Gemeinwohl ausgerichtete Bureaukratie ersetzt wird durch jene von Großunternehmen.
Cui bono?
Steuersenkungen – es geht dabei um die direkten Steuern: die Steuer, die weniger begüterte Menschen und den Binnenmarkt besonders belastet, die Mehrwertsteuer, blieb ausgespart – nutzen den Wohlhabenden, nutzen besonders den Großakteuren der Wirtschaft. Ihnen nutzt auch die Arbeitslosigkeit: das Palladium der Sozialen Marktwirtschaft war die Tarifautonomie, das freie Aushandeln von Arbeitsbedingungen und Einkommen zwischen Arbeitnehmern – sprich: Gewerkschaften – und Arbeitgebern. Mit zunehmender Arbeitslosigkeit wurde das Gewicht der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften dabei immer geringer: die Arbeitseinkommen begannen zu sinken. Durch sinkende Sozialleistungen wurde zugleich der Druck auf die Arbeitslosen größer, sie mußten sich mit ungünstigeren Arbeitsplätzen begnügen. Die Arbeitsplätze vermehrten sich nicht, sondern sie wurden „prekärer“. Die Gewinner sind die Arbeitgeber, sind vor allem die Großakteure der Wirtschaft. Ihnen nutzt auch der Freihandel: leidet infolge zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut der Binnenmarkt – sie können ihre Produkte exportieren.
So wuchs das Bruttosozialprodukt, mit ihm wuchsen die Gewinne der Unternehmen, während die Einkommen der Arbeitnehmer zu sinken begannen und das „Prekariat“ geboren wurde. Das veranlaßt die Protagonisten der Wettbewerbspolitik nicht, deren Scheitern einzugestehen. Diese Folgen, und mit ihnen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau, sind demnach durchaus nicht unerwünscht.
Lese ich das, was ich heute schreibe, mit den Augen der späten sechziger Jahre, so erscheint es mir abwegig: damals meinte man noch an den guten Arbeitgeber, den guten Unternehmer glauben zu können. Waren damals die Konservativen in diesem Glauben ähnlich naiv wie die 68er in ihrem Glauben an die Revolution? Oder haben sich seither die Kapitalisten geändert? An beidem mag etwas sein: man war naiv; aber – Jean Jacques Servan-Schreiber 4 hat es vorausgesagt – es hat sich auch etwas geändert. Den wohlmeinenden Unternehmer hat es sicher gegeben, es gibt ihn sicher noch heute; aber unter der Nomenklatura der Konzerne ist er schwerlich zu finden. Es scheint, als habe der Investorenkapitalismus unserer Zeit sich bemüht, die Marxisten früherer Jahrzehnte zu bestätigen.

Die „Political correctness“

Je mehr sich von der rechten Seite her der Neoliberalismus ausbreitete, desto friedlicher wurden die Ansprüche der linken. Revolution, Kollektivierung, „Vergesellschaftung“ traten in den Hintergrund; stattdessen wurden mehr und mehr sozialstaatliche Positionen von dieser Seite vertreten. Doch linke Militanz zeigte sich nun an anderer Stelle: in den achtziger Jahren erschien das, was man in Großbritannien „Loony Left“ nannte. Ihr Thema waren Minderheiten, die man vorgeblich vor Diskriminierung schützen wollte. Vorgeblich: auffällig ist, wie inkonsequent die zu schützenden Minderheiten ausgewählt waren. Diese sekundären Themata der Linken wurden dann bald unter dem Namen der „Political correctness“ zur Ideologie einer informellen Sekte, die sich weit über die Grenzen der üblichen Linken hinaus ausbreitete.
Frauen sind zwar keine Minderheit, aber doch diskriminierungsgefährdet. Ob Muslime diskriminiert werden dürfen, bleibt ungeklärt. Auf jeden Fall aber dürfen muslimische Frauen strengerer Glaubensrichtungen diskriminiert werden: ihr Kopftuch schließt sie vielerorten von Beamtenstellen aus, die Männern derselben Glaubensrichtungen ohne weiteres zugänglich sind. Muslimische Frauen strengster Glaubensrichtungen sollen in Frankreich ihrer Burka wegen nicht einmal auf die Straße gehen dürfen, während die Männer wiederum keiner solchen Einschränkung unterliegen.
Auf Schwierigkeiten stößt der Abbau von Diskriminierungen von Frauen, wenn er auf Grundwerte des Marktliberalismus wie die Vertragsfreiheit stößt. Frauen finanziell zu benachteiligen war eigentlich schon lange untersagt, wurde aber bei Versicherungen aus „versicherungsmathematischen“ Gründen noch lange toleriert – Verträge mit solch ungleichen Tarifen gelten noch heute –; Frauen geringeres Gehalt, geringeren Lohn zu zahlen ist eigentlich schon lange nicht mehr statthaft, aber benachteiligte Frauen werden, statt amtliche Hilfe zu erhalten, immer noch auf die Risiken des Rechtsweges im eigenen Namen verwiesen.
Eine Minderheit, die eigentlich als schützenswert betrachtet wird, sind Behinderte. Doch andererseits dürfen – „Spätabtreibung“ – ungeborene behinderte Kinder hierzulande noch in einem Alter getötet werden, in dem gesunde Kinder bereits geschützt sind. Und jener Peter Singer, der Menschenrechte eher Affen als Schwerstbehinderten zugestehen will, hat durchaus Raum in den Medien, ohne der Volksverhetzung geziehen zu werden.
Rassen und Völkerschaften werden ebenso eigentlich als schützenswert betrachtet, ganz besonders die Juden. Doch die ganz besonders jüdischen, die „ultraorthodoxen“ Juden dürfen – ohne sonderlichen Zusammenhang mit der Realität – als Hauptverantwortliche für Unerfreulichkeiten der Politik in Israel vorgeführt werden. Der Anblick eines „Kaftanjuden“ habe Hitler zum Antisemitismus veranlaßt, wird kolportiert. Mit dem Vorzeigen solcher „Kaftanjuden“ in Israel läßt sich noch heute unterschwellig antisemitische Stimmung machen. Und Antisemitismus auf kaltem Weg hat sich jüngst in Deutschland ausgebreitet mit der Forderung, die Beschneidung zu verbieten. So groß also der Protest gegen Rassismus ist, so gering ist die wirkliche Achtung für wirkliche Juden.
Menschen der im subsaharanischen Afrika weitverbreiteten Rasse sollen, um sie nicht zu diskriminieren, nicht mehr „Neger“ genannt werden – doch sie „Schwarze“ zu nennen bleibt erlaubt. Wie schwierig diese Regel für Spanier ist, wurde hier schon angemerkt 5; wie dann man verstehen soll, was der große Dichter und Staatsmann Léopold Sédar Senghor unter «Négritude» verstand, fragte ausführlicher Thomas Baumann 6.
Doch: klingt im Deutschen „Schwarzer“ denn weniger abwertend als „Neger“? «Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?» wurde im Kinderspiel gefragt; und «weil ein Schwarzer häßlich ist» ließ der Aufklärungsenthusiast und Freimaurer Emanuel Schikaneder in der „Zauberflöte“ (II.7.) singen.
Wohl im Zusammenhang mit der „sexuellen Revolution“ wurde „sexuellen Minderheiten“ zentrale Aufmerksamkeit gewidmet. Im Vordergrund steht dabei „Homosexualität“, wobei dieser Begriff äußerst schwammig gebraucht wir: mal bezeichnet er homosexuelle Neigungen, mal homosexuelle Praktiken. Am Anfang stand die Auseinandersetzung um das strafrechtliche Verbot homosexueller Praktiken zwischen Männern, das hierzulande bis 1969 galt. Weder waren bei diesem Verbot gute Folgen sichtbar, noch ist es in einem säkularen Rechtswesen zu begründen. Für einen nichtchristlichen Humanisten (gibt es den noch?) sind solche Praktiken kaum anstößig: von Zeus, von Apollon werden homosexuelle Beziehungen berichtet, und unter den Sterblichen waren sie auch bei den Großen der klassischen Antike anscheinend weit verbreitet.
So sehr aber damals homosexuelle Praktiken akzeptiert waren – von „Homoehe“ war nicht die Rede. Die Ehe ist eine Selbstverständlichkeit aller menschlichen Kulturen, und selbstverständlich ist sie immer und überall die Ehe zwischen Mann und Frau (große Unterschiede gibt es nur in den Einzelfragen: Mono- oder Polygamie? ist, wie ist Scheidung möglich?). Die grundlegende Eigenart der Ehe entstammt der menschlichen Natur. Also ist das Wesen der Ehe als dauerhafter Verbindung von Mann und Frau der Verfügungsgewalt des Staates entzogen.
Zu fragen ist auch, ob „Homoehe“ überhaupt im Sinne einer eigentlichen Ehe gemeint ist. Im Blick auf solche „Homoehe“ erklärte Volker Beck, dessen Stimme in dieser Frage sicher nicht marginal ist, im „pro-Interview“: «Ich finde, es kommt auf soziale Treue an. ... Die Frage, ob mal jemand mit einem anderen ins Bett geht, ist zweitrangig.» Sexuelle Treue aber gehört recht offensichtlich zu den Grundlagen der Ehe – eine Besonderheit des christlichen Eheverständnisses ist nur, das es diese Treue von beiden Geschlechtern fordert.
Dennoch aber wird von Seiten der „politischen Korrektheit“ eben das, was in der Sache unmöglich ist, vom Staat verlangt.
Und eingetragene Lebenspartnerschaften?
In der Tat ist es angemessen, Wirtschaftsgemeinschaften, Solidargemeinschaften über die Ehe hinaus (etwa Großfamilien, aus mehreren Kleinfamilien und Einzelpersonen bestehend, oder Konventen) rechtliche Verankerung zu geben. Allein gesetzlich eingetragene Lebenspartnerschaften einzuführen, deren Eigenart nur als Nachahmung der Ehe zu verstehen ist, führt dieses Anliegen in eine falsche Bahn.
Wieder zur Frage: wer darf nach wie vor diskriminiert werden? Inzest ist immer noch verboten, ein Verbot, das weitgehend klaglos akzeptiert wird. Hier sei von der milderen Form des Inzests die Rede, dem zwischen Geschwistern. Auch dafür findet ein nichtchristlicher Humanist Vorbilder: von Kronos und Rhea, von anderen Titanenpaaren, von Zeus und Rhea wird er berichtet, und unter den Sterblichen von den Ptolemäern. Man argumentiert dagegen eugenisch: die Kinder, die Nachkommen könnten genetisch beeinträchtigt sein. Doch auch gegen Männer, die homosexuelle Praktiken pflegen, wird vorgebracht, sie seien anfälliger gegen venerische Infektionen und psychische Belastungen wie etwa Depressionen. Sei dem, wie es mag: beim einen wie beim anderen sagt das nichts über den Einzelfall (die letzte ptolemäische Herrscherin, Kleopatra VII., war eine sehr intelligente, energische und geschickte Frau).
Das homosexuell empfindende Menschen nicht als „krank“ bezeichnet werden wollen, ist verständlich: selbst bei gravierenden, nur schwer begreifbaren Beeinträchtigungen des Seelenlebens wie Psychosen erscheint der Begriff „psychische Krankheit“ problematisch, weil er allzu oft zu Gesprächsverweigerung dem Betroffenen gegenüber und zu vorschneller Zwangsbehandlung geführt hat. Doch während Homosexualität aus der im Gesundheitswesen verbindlichen Liste der Störungen (dem ICD 10 – einem großen Werk von anerkanntermaßen abgrundschlechter fachlicher Qualität) gestrichen worden ist, ist Asexualität darin durchaus aufgeführt (unter F52.0) – eine „Störung“, die sich sicher so mancher unfreiwillig oder auch freiwillig zölibatär lebende Mensch sehr wünscht. Doch von Beschwerden, daß asexuelle Menschen durch diese Einordnung unter die „Störungen“ diskriminiert würden, habe ich bisher nichts gehört.
Diskriminiert werden dürfen homosexuell empfindende Männer, die gegen diese Neigung eine Therapie wünschen (wohlgemerkt: sie selber wünschen!), und mit ihnen die Therapeuten, die dazu bereit sind. Solche Therapien seien unwissenschaftlich, schädlich oder dergleichen. Und sie würden vor allem von evangelikaler Seite ins Werk gesetzt. Damit ist zwanglos geklärt, welche Minderheit auf jeden Fall diskriminiert darf: evangelikale Christen.
Nun ist es wirklich versucht worden, solche Männer verhaltenstherapeutisch oder medikamentös oder gar chirurgisch zu behandeln; natürlich können solche Behandlungen nur schaden. Bemerkenswerterweise allerdings betrachtet man bei sogenannten „Transsexuellen“ chirurgische und medikamentöse Eingriffe als ganz normale Therapie gegen etwas in sich so gesundes wie das natürliche Geschlecht. Daß aber eine echte Psychotherapie homosexuell empfindenden Männern schaden könnte, ist eine haltlose Annahme. Welchen Erfolg sie aber haben mag, ist ein Thema für die Wissenschaft – der Politik gebührt da nicht das erste Wort (Wissenschaft heißt hier freilich nicht: Studien von Wissenschaftlern, die wirtschaftlich abhängig sind, die dem US-amerikanischen „publish or perish“-Prinzip unterliegen oder die eigene ideologische Interessen haben – echte Wissenschaft bedarf eines langen Atems). Immerhin berichtet ein homosexuell engagierter Autor sogar von Spontanremissionen: «der homosexuelle mann ... [von Elmar Kraushaar 7] ... muss nicht immer homosexuell bleiben.»
Diskriminiert werden dürfen Arbeitslose, besonders Langzeitarbeitslose. Diskriminiert werden dürfen nicht nur evangelikale, sondern nicht minder katholische Christen. Bezeichnend ist die Auseinandersetzung um die Pädophilie: die katholische Kirche hatte erleben müssen – ebenso wie protestantische und weltliche Einrichtungen, die Kinder oder Jugendliche betreuen –, daß Menschen, die in ihrem Dienst standen, von ihr besoldet wurden, sich an denen vergingen, die ihnen anvertraut waren. Tatsächlich gab es in den Ordinariaten (ebenso wie in protestantischen und weltlichen Institutionen) auch Vorgesetzte und Verantwortliche, die verantwortungslos verleugneten oder verharmlosten. Aber letztlich steht man vor der einfachen Tatsache, daß Pädophile dahin strömen, wo Kinder und Jugendliche zu betreuen sind.
Als das Thema in der Öffentlichkeit hochkochte, wurde (neben einer Reformschule) der katholischen Kirche von weiten Kreisen die Hauptschuld zugeschrieben, alle übrigen traten in den Hintergrund, ungeachtet der Tatsache, daß in katholischen Einrichtungen Mißbrauch durchaus nicht überproportional häufig auftrat – eher trifft das Gegenteil zu. Als dann die Quellen publik gemacht wurden, die zeigten, daß Gruppen der 68er, politische Gruppierungen und Fraktionen der „Schwulenbewegung“ („Schwups“), Pädophilie seinerzeit zur Normalität erklärt hatten, wurde je nach politischer Richtung diesen Gruppierungen daraus ein Vorwurf gemacht oder aber es entschuldigt: man müsse es aus dem Geist der damaligen Zeit verstehen. Doch solche, die hier entschuldigten, erhielten gerne die Vorwurfshaltung gegen die Kirche aufrecht. Also: der Kirche wird ein schwererer Vorwurf daraus gemacht, daß gegen ihren erklärten Willen ihr Vertrauen mißbraucht wurde, als jenen daraus, daß sie den Mißbrauch gutgeheißen, propagiert haben. Denen wird zugute gehalten, daß sie im Einklang mit dem Denken der damaligen Zeit waren, also konformistisch waren. Daß die Kirche sich dem damals nicht unterworfen hat, wird durchaus nicht geschätzt.
Die „Political correctness“ ist die Ideologie einer Sekte, die Menschenopfer fordert: wenige Jahrzehnte, nachdem die Todesstrafe in Deutschland und dann überall in West- und Mitteleuropa abgeschafft worden war, wurde sie wieder eingeführt fürs Unerwünschtsein. Abtreibung wird nicht nur erlaubt, sie wird gefördert, indem sie aus öffentlichen Mitteln oder von der Krankenkasse – als sei ein Kind eine Krankheit – bezahlt wird.
In der klassischen Antike war Abtreibung selbstverständlich erlaubt, so wie Aussetzung des Säuglings erlaubt war – selbstverständlich, weil der Staat sich damals nicht in die Familie einmischte; der Pater familias war dort der Souverain. „Patria potestas“ ist ein lateinischer Ausdruck; doch schon ein Blick in die Nikomachische Ethik (I.iij.4.) zeigt, daß selbst Aristoteles ähnlich dachte, nur die Ehefrau ansatzweise ausnahm. Heute aber regiert der Staat intensiv in die Familie hinein, gerne auch im Übermaß: so wird nicht einmal Eltern, die dazu durchaus befähigt sind, gestattet, ihre Kinder selber zu unterrichten. Mit der Sorge um geborene Kinder kontrastiert die Neigung, ungeborene zu töten. Beteiligung an Abtreibung wird mehr und mehr zur Pflicht: Ein Arzt, der bei einer schwangeren Frau die todbringende Diagnose Röteln nicht ausspricht, hatte dafür, daß er so das Leben des Kindes gerettet hatte, Schadensersatz in makabrer Höhe zu leisten. Es geht bei einem behinderten Kind um den gesamten Unterhalt für das Kind einschließlich des behinderungsbedingten Mehraufwandes. Durch ähnliche Urteile sehen sich Ärzte gezwungen, schwangeren Frauen, die älter als 33 Jahre sind, zur Fruchtwasseruntersuchung raten, einer Untersuchung, die keinerlei Nutzen bringt, für das Kind sogar gefährlich ist; Ziel dieser Diagnostik kann nur die Abtreibung sein.
Im Standardwerk über „Moderne Irrtümer und ihre Herkunft“ 8 weist Thomas Baumann darauf hin, daß die Gebiete, in denen die „Political correctness“ am virulentesten ist, sich mit denen decken, in denen einst die Hexenverfolgung weit verbreitet war.

Das Zusammentreffen der gegensätzlichen Ideologien

Die Rechte:
Die gemäßigte, die konservative Rechte ist aus der breiten Öffentlichkeit verschwunden, sie ist dem Neoliberalismus gewichen.
Die neoliberale Rechte ist weit fortgeschritten, in der Innenpolitik hat sie, zwar noch etwas umstritten, doch vieles durchgesetzt: Steuersenkungen, Sparmaßnahmen, Kürzungen im Sozialbereich, Privatisierung. Die Folge: einerseits steigt das Bruttosozialprodukt, andererseits werden die meisten Menschen ärmer, die öffentliche Hand, vor allem die Kommunen, ebenso, die Arbeitsstellen werden „prekärer“. Die Gesetze der Agenda 2010 zwingen Arbeitslose, jede Stelle anzunehmen, ungeachtet der eigenen Qualifikation. So sehen diese Menschen ihre Lebensgeschichte mißachtet. Die Folge: die Menschen sind entmutigt; und der Wirtschaft fehlen Fachkräfte: die bei einem Konjunkturabschwung eingesparten Arbeitskräfte können ihre Qualifikation für die Aufgaben, für die sie bald darauf gebraucht werden, so nicht bewahren.
In der Außenpolitik hat diese Rechte fast völlig obsiegt: Freihandelsabkommen, internationale Verträge, die die Staaten immer mehr einschränken, wenn sie die Mächte der Wirtschaft unter ihre Kontrolle zu bringen suchen. So erhalten internationale Organisationen und Schiedsgerichte Macht, ohne irgendwelche Verantwortung, insbesondere ohne soziale Verantwortung gegenüber den Staaten und Menschen zu übernehmen. Die Folge: weltweit folgt (anders als in der Zeit von Bretton-Woods) Krise auf Krise, ganze Staaten verarmen, manchmal wegen der Fehler ihrer Regierungen, manchmal auch nur wegen der Unbilden der Finanzmärkte. Gehören diese Staaten der Europäischen Union an, so dürfen sie auf – bescheidene – Hilfe hoffen, wenn sie dafür ihren Bürgern Schaden zuzufügen bereit sind: Sozialausgaben kürzen, gerade wenn die Not am größten ist, die Rechte der Arbeitnehmer abbauen. Aber diese Kürzungen, diesen Abbau gibt es, wenn auch nicht ebenso rigoros, auch in den Staaten, die dabei scheinbare Gewinner sind. Doch die Großen der Wirtschaft überstehen in aller Regel diese Krisen ohne Schaden.
Die Linke aber wird durch ihre Feindseligkeit gegen alles Nationale davon abgehalten, sinnvolle nationale Maßnahmen – die keineswegs nationalistisch, sondern schlicht Maßnahmen der einzelnen souverainen Staaten wären – zu fordern oder auch nur gutzuheißen; so ist „Protektionismus“ zum Schimpfwort für Rechts und Links geworden.
Konzessionen mußte der Liberalismus der Umweltbewegung machen. Die Atomkraft etwa ist in Deutschland dabei, abgebaut zu werden – nach der Katastrophe vor drei Jahrzehnten hatte man sich noch damit herausreden können, die ukrainischen Atomkraftwerke seien weniger sicher als die deutschen; nach der vor drei Jahren konnte man das von den japanischen keineswegs sagen. Doch ob das von Dauer sein wird, ist nicht sicher (ein liberaler Bundesminister konnte erklären, daß sei nur ein ephemeres Nachgeben gegenüber der öffentlichen Stimmung); in anderen Ländern wird sie weiter ausgebaut.
„Erneuerbare Energien“ sind zwar sehr unbeliebt bei den Nutznießern des Marktliberalismus, den Großakteuren der Wirtschaft; nichtsdestoweniger gelingt es ihnen, sie, deren eigentlichem Sinn zuwider, für sich in Beschlag zu nehmen: durch zentrale Versorgung mit Windenergie über Stromleitungen weit übers Land hin, durch agrarindustriell erzeugten Biosprit.
„Grüne“ Gentechnik scheitert in vielen europäischen Ländern noch am Widerstand der Menschen. Es gibt gelegentlich bereits nachgewiesene, weitgehend aber noch ungeklärte Gesundheitsrisiken, von offizieller Seite meist geleugnet, also billigend in Kauf genommen (solche Risiken werden gar sinnlos hervorrufen dadurch, daß Antibiotika-Resistenzen als «Marker» eingesetzt werden). Auf diese Risiken konzentrieren sich die Einwände, müssen sie sich konzentrieren, weil das gegenüber den Institutionen der Europäischen Union die einzige Möglichkeit zur Ablehnung ist. Aber gravierend ist auch anderes: durch die Lizenzkosten werden Bauern weiter abhängig gemacht von Saatgutkonzernen (in Kanada wurde ja schon ein Bauer verklagt auf exorbitant hohen Schadensersatz und in erster Instanz dazu auch verurteilt dafür, daß seine Felder mit genverändertem Saatgut verunreinigt worden waren) – freilich besteht solche Abhängigkeit schon durch das „Sortenrecht“. Und durch die Gentechnik droht (in einem Interview 9 hat das ein führender Mitarbeiter eines weltweit führenden Nahrungsmittelkonzerns sehr klar bestätigt) wohlschmeckende (und daher sicherlich auch gesunde) natürliche Nahrung ersetzt zu werden durch etwas, was nach Maßgabe irgendwelcher Funktionäre der jeweiligen ernährungsphysiologischen Mode oder dem angenommenen Verbrauchergeschmack entsprechend umgemodelt wurde – freilich ist schon durch das „Saatgutrecht“ heute bereits der Geschmack (und, biochemisch betrachtet: der Vitamingehalt) der vorherrschenden Obstsorten äußerst reduziert. (Und Sortenrecht und Saatgutrecht, wenn auch viel älter, sind ebenfalls ganz im Sinne des Marktliberalismus.)
Die Linke:
Die Linke ist, sieht man von winzigen Splittergruppen ab, in ihren Kernanliegen bescheiden geworden: von Revolution, von Vergesellschaftung ist kaum mehr die Rede. Den Sozialstaat, im Sinne der Konservativen der fünfziger und sechziger Jahre, halten sie noch hoch – und im Ernstfall geben sie ihn gerne preis: sein Abbau wurde von Kräften linker Provenienz mitgetragen – etwa bei all den neoliberalen Europaverträgen – oder gar ins Werk gesetzt – in Deutschland etwa bei der „Agenda 2010“.
Als die durch Industrie und industrialisierte Landwirtschaft verursachten Umweltschäden in der breiten Öffentlichkeit bekannt wurden, begannen sich kleine konservative und linke Kreise der Sache anzunehmen; die Regierungen – und ganz besonders die der regierenden Linken des Ostblocks – blieben noch lange Zeit ungerührt. Die konservative Rechte verschwand von der politischen Bühne; so konnte im Westen Umweltschutz zunehmend zu einem Thema der Linken werden – doch mehr zu einem Thema der oppositionellen Linken: regierende Linke opfern diese Themata gerne der jeweiligen Koalitionsraison.
Je mehr die althergebrachten Anliegen der Linken und dann auch ihre neuangenommenen Umweltanliegen geopfert wurden, desto so energischer wird seither die „politisch korrekte“ Seite durchgesetzt; hier hat sich die aggressive Seite der Linken Bahn geschaffen. Die präferierten Minderheiten sind gesetzlich vor Diskriminierung geschützt, so sehr, daß kritische oder moralisierende Äußerungen über sie in der Öffentlichkeit kaum mehr geduldet werden (während ich dies schreibe, steht in Spanien ein Kardinal unter Anklage wegen unliebsamer Äußerungen); die „Homoehe“ oder zumindest eingetragene Lebensgemeinschaften fast gleichen Rechts haben sich in Europa allgemein verbreitet. Doch gelungen ist all das vor allem auf deklamatorischer Ebene – Aversionen gegen diese Minderheiten sind nun in die Dunkelheit des sozialen Untergrunds beschränkt; daß aber diese Minderheiten Nutzen davon haben, ist nicht recht zu sehen: auf den Straßen, auf den Schulhöfen scheinen sie vor Anfeindungen, gar Angriffen eher gefährdeter als zuvor.
Das Programm der „sexuellen Revolution“ ist zu einer Art von Normalität geworden. Ein Sexualkundeunterricht wurde in den Schulen eingeführt, der im Ruf steht, nicht nur Sexualität zum Gegenstand zu nehmen, sondern auch Schamgrenzen zu verletzen und Wertungen im Sinne jener „Revolution“ zu vermitteln (ich habe bei verschiedenen Gelegenheiten manches gehört, was zeigt, daß dieser Ruf nicht ganz unverdient ist). Die Stimme der Kirche wird immer mehr zurückgedrängt. Unser Staat nennt sich weltanschaulich neutral; diese „Neutralität“ fordert er aber mehr von Beamten oder Angestellten ein, die ihre Überzeugung sichtbar machen, als von sich selbst. Wenn ein Staat sich nicht an Werten orientiert, sondern selber die Werte vorgibt, die von ihm bestimmten Werte der Bevölkerung aufdrängen will, so bereitet das staatlicher Willkür die Bahn, so droht der Staat, totalitär zu werden.
Und die Folgen für die Menschen? Die politische Korrektheit will Frauen befreien. Eine typische Szene aus der Arbeit eines Beraters: die Frau wollte von sich aus noch nicht mit ihrem Freund schlafen, aber: «Man kann doch einen Mann nicht warten lassen» – junge Frauen sorgen sich, bei der Suche nach einem Freund, einem Mann abgehängt zu werden, wenn sie nicht bereit sind, frühzeitig mit ihm das Bett zu teilen. Die Forderung nach Freigabe und Unterstützung der Abtreibung hat sich fest mit dem Feminismus verbunden. Die Folgen für die Frauen? Eine typische Szene aus der Arbeit eines Beraters: eine junge Frau wird schwanger. Solange die Frist für eine legale Abtreibung andauert, setzt ihr Freund, der Vater des Kindes, sie unter Druck, abzutreiben. Sie verweigert das, er verläßt sie am Ende dieser Frist. Natürlich wird diese Beziehung auch dann nur schwerlich überleben, wenn sie sich unterwirft – zu schwer wiegt die Kränkung durch seine Vorwürfe und Beleidigungen.
Der Triumphator:
Kleine Siege der Linken, der „loony left“ neben den großen Siegen des Neoliberalismus?
Von den Idiosynkrasien der 68er hatte der Liberalismus manches vorweggenommen: der Liberale Ralf Dahrendorf 10 sieht die von ihm erstrebte freiheitliche Gesellschaftsordnung gefährdet durch „Versäulungen“, die vor allem durch Region und Religion gegeben sind. Eine Familie mit umfassendem Erziehungsanspruch und eine Schule mit ästhetischem Bildungsanspruch betrachtet er als konträr zur liberalen Demokratie an. Was er ablehnt, sind also Instanzen, die den einzelnen gegenüber dem direkten Zugriff des Staates stärken.
Schwächung des einzelnen und der Instanzen, die ihm Halt geben, gegenüber dem Staat, Schwächung des Staates gegenüber den Großakteuren der Wirtschaft: das zeigt sich als Stoßrichtung des modernen Liberalismus.
Ebenfalls schon kurz vor der Ausbreitung der 68er machte man sich in diesem Geiste in den deutschen Bundesländern daran, die Konfessionsschulen aufzulösen. Anfangs war die Rede noch von „christlicher Einheitsschule“; doch in Wirklichkeit wurde zügig eine laïzistische Staatsschule daraus. Laïzistisch – das heißt letztlich, daß der Staat sich keinen Werten mehr unterordnet, sondern durch die Schule selber die in der Gesellschaft geltenden Werte bestimmen will. Diese Maßnahmen wurden zwar vor allem von linken Parteien propagiert; doch durchgezogen wurden sie letztlich ebenso von sich „christlich“ nennenden Parteien, so daß kein Bundesland verschont blieb. Als „konservativ“ hatte ja bisher der Versuch gegolten, christliche Werte und liberale – genauer: ordoliberale – Marktwirtschaft zu verbinden. Doch jetzt schon begann die Auflösung jener konservativen Haltung ins rein Liberale.
Unter dieser Perspektive seien nun die „politisch korrekten“ Siege der Linken betrachtet:
Atheïsmus – Antiklerikalismus – Laïzismus
– diese Religionsfeindlichkeit hatte schon bei Ralf Dahrendorf zentralen Rang.
Das kirchliche Arbeitsrecht wird mehr und mehr angegriffen, ausgehöhlt. Kirchliches Arbeitsrecht, das heißt besonders: das Recht der Kirche, in ihren Einrichtungen die Arbeitsstellen, wenn möglich, mit ihren Gläubigen zu besetzen, von ihnen zu verlangen, das sie sich an die grundlegenden Normen der christlichen Ethik halten. Das aber wird ihnen durch die staatliche Rechtsprechung zunehmend verwehrt; es drohen auch neue Gesetze dagegen. Dabei geht es nicht nur um randständige Dienstleistungen, sondern um Stellungen von Menschen, die im Gottesdienst eine Rolle spielen – wie Kirchenmusiker – oder die Verfügungsgewalt über andere Mitarbeiter haben – wie Chefärzte.
Ein Staat, die nicht nur von seinen Beamten, sondern auch all seinen Angestellten strenge Verfassungstreue fordert (so daß sogar, als ich einstmals eine kleine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft annahm, ich mich offiziell verpflichten mußte, diese nicht zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen), verwehrt es der Kirche, von ihren Angestellten Treue zu ihrem Glauben und den Grundforderungen christlicher Lebensführung zu verlangen – und das in einer Zeit, die die Trennung von Staat und Kirche auf ihre Fahne geschrieben hat.
Wenn der Kirche eine Stimme in der Politik verwehrt wird, so bekommen die Wünsche der „Political correctness“ freie Bahn. Aber auch die Stimme der Soziallehre der Kirche fällt dann fort – freie Bahn also ebenso für den Neoliberalismus.
Die Kirche droht nicht nur durch Beschneidung des Kirchlichen Arbeitsrechts aus Sozial- und Gesundheitswesen vertrieben zu werden, mehr noch wird sie durch Wettbewerb mit privaten Anbietern – kirchliche Arbeitgeber zahlen, dem Kirchlichen Angestelltentarifvertrag oder den Arbeitsvertragsrichtlinien entsprechend, in der Regel höhere Löhne – aus diesen Arbeitsfeldern, die ja weitgehend seit dem Mittelalter durch die Kirche begründet wurden, zurückgedrängt.
Die Nutznießer: private Betreiber von Kliniken und Pflegeeinrichtungen, die sich um so mehr auf Kosten der kirchlichen ausbreiten können.
Bildungsfeindlichkeit
– sie findet sich schon bei Ralf Dahrendorf.
Bildung in den Schulen und an den Universitäten wurde mehr und mehr aufs beruflich Nutzbare reduziert, kürzere Schul- und Studienzeiten wurden eingeführt (immerhin: die Kürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre hat zu solchen Schwierigkeiten für die Schüler geführt, daß Politiker sich daran machen, sie rückgängig zu machen). Die Folge: mehr Akademiker auf dem Arbeitsmarkt, noch dazu mit begrenzterem Horizont für kritische Reflexion und Orientierung an humanen Werten.
Die Gewinner: die Arbeitgeber.
Nicht nur der Unterricht in den alten Sprachen ist seltener geworden, selbst von den neuen Sprachen ist an Gymnasien oft nur noch eine verbindlich. Nichtsdestoweniger ist der Unterrichtsstoff so umfangreich geworden, daß elterliche Hilfe (oder die Hilfe bezahlter Nachhilfelehrer) zunehmend notwendig geworden ist und selbstverständlich vorausgesetzt wird – während die Schulpsychologie weiß, daß Eltern für die Schularbeit Mitverantwortung übernehmen zu lassen pädagogisch abträglich ist.
So kommt soziale Auslese auf dem Weg aufs Gymnasium zurück. Gerade humanistische Gymnasien stehen im Ruf, dort sei teure Markenkleidung die soziale Norm, drohen teure Klassenreisen angesetzt zu werden – so wird der Zugang zu humanistischer Bildung für Kinder aus der Unterschicht wieder erschwert.
Familienfeindlichkeit
– sie findet sich schon bei Ralf Dahrendorf.
Die Familienfeindlichkeit der Linken zeigt sich heute im Kampf gegen das Ehegattensplitting und um die außerfamiliäre Kinderbetreuung, möglichst schon von ganz frühem Alter an in Krippen.
Das Ehegattensplitting ist einfach eine Maßnahme zur Steuergerechtigkeit: Ehepaare mit gleichem Einkommen sollen gleich besteuert werden. Es wird aber von linker Seite angegriffen mit pikanter Argumentation: «Der Splittingvorteil ist oft so groß, dass eine Frau keinen Anreiz zur Erwerbstätigkeit hat – denn dann würde der Steuervorteil ja schmelzen», meinte eine Dame vom Deutschen Frauenrat 11. Es geht also um Frauen, die selber nicht gerne arbeiten wollen, die nun durch das Steuerrecht dazu gedrängt werden sollen. «Das Ehegattensplitting mitsamt dem Hausfrauenmodell lenkt Familien eher in die Armut» – Familien ließen sich demnach vom Ehegattensplitting verführen, den scheinbaren Vorteil des Augenblicks, zu suchen, ohne zu begreifen oder zu beachten, daß sie das auf Dauer in Armut zu stürzen drohe. Es sind also nicht mehr (im Geiste des preußischen Ministers v. Rochow) die Handlungen des Staatsoberhauptes, an die die Bürger den Maßstab ihres beschränkten Untertanenverstandes nicht anlegen sollen, sondern jetzt ist es die eigene Lebensplanung, für die ihre Einsicht zu beschränkt sei; darum müssen sie vom Staat «gelenkt», bevormundet werden.
Doch es ist Unsinn, daß das «Ehegattensplitting mitsamt dem Hausfrauenmodell» Familien «eher in die Armut» lenke. Unsinn ist, daß der Splittingvorteil oft so groß sei, «dass eine Frau keinen Anreiz zur Erwerbstätigkeit hat» – wenn sie erwerbstätig sind, schmilzt zwar der Steuervorteil, aber das Einkommen steigt dennoch. Doch hier schlägt sich wieder jenes wirtschaftsliberale Postulat nieder, alles wirtschaftliche Handeln im weitesten Sinne sei auf materiellen Nutzen ausgerichtet.
Vor allem lenkte die Abschaffung des Splittingvorteils – wenn er denn lenkte – viele betroffene Frauen – und auch Männer: es gibt ja, gerade in der Situation großer Arbeitslosigkeit, zahlreiche Familien, in denen Frauen Allein- oder Hauptverdiener sind – eben nicht zu weniger, sondern zu mehr Armut, denn viele der betroffenen Frauen und Männer würden keine Arbeit finden. Die wirkliche Folge für diese Frauen wäre, daß sie dann ohne den Steuervorteil des Splittings eben deutlich weniger Einkommen hätten.
Auch die außerfamiliäre Kinderbetreuung hat das Ziel, Frauen oder auch Männern ein Glück zu ermöglichen, das viele von ihnen gar nicht wollen: das Glück, selber einen oft bescheidenen Zuverdienst zum Familieneinkommen beizutragen, indem sie, zu oft unwirtlichen Zeiten, an der Ladenkasse sitzen, am Fließband stehen, Befehlsempfänger sind, statt in der Familie eigenständig ihre Aufgaben zu erfüllen. Daß Freude an den eigenen Kindern mehr sein kann als die an solcher Berufsarbeit, hat dankenswerterweise so mancher bei seinen Kindern und (so auch ich) bei seinen Eltern erlebt. Und Frauen (sicher: öfter sind es Frauen), die die Qualifikation für eine wirklich befriedigende Berufsarbeit haben, wissen zu entscheiden, wann die Kinder groß genug dafür sind, und dann ihre Berufsarbeit wieder aufzunehmen.
Natürlich wird zur Begründung der außerfamiliäre Kinderbetreuung immer wieder angeführt, damit solle die Bildung der Kinder gefördert werden – daß Entwicklungspsychologen immer wieder davor warnen, bleibt unbeachtet.
Abschaffung des Ehegattensplittings und außerfamiliäre Kinderbetreuung haben das gleiche Ziel: Frauen, ob sie wollen oder nicht, auf den Arbeitsmarkt zu treiben – doch die Arbeitszeit wird nicht etwa reduziert, um das Familienleben zu erleichtern, wenn beide Eheleute arbeiten. Die Folge: mehr Menschen drängen auf den Arbeitsmarkt, die Zahl der Arbeitslosen steigt. Die Gewinner: die Arbeitgeber, deren Macht gegenüber Arbeitnehmern und Bewerbern um einen Arbeitsplatz dadurch steigt.
Bei den 68ern sollte das Privatleben sich ganz dem politischen unterordnen, im Neoliberalismus wird es ganz dem Markt unterworfen: dessen Familienfeindlichkeit zeigt sich in den Gesetzen der Agenda 2010, die Arbeitslose zwingt, bundesweit einen Arbeitsplatz zu suchen – so wird die Familie auf die Kleinfamilie beschränkt, alle familiäre Zusammengehörigkeit, die darüber hinaus geht, wird beschädigt. Großeltern und weitere nahe Verwandte stehen dann nicht mehr für die Kinder zur Verfügung. Dabei geht es auch um Kinderbetreuung, wenn die Eltern berufstätig sind, aber nicht nur darum: Großeltern und andere nahe Verwandte bringen sehr oft emotionale Tönungen und Persönlichkeitszüge ein, die für die Entwicklung des Kindes wertvoll sind – für Kinder aus bedrückenden Familiensituationen ist gerade die Rolle von Großeltern sehr oft die wichtigste Hilfe (die professionelle Betreuer keineswegs in diesem Maße ausfüllen können).
Abschaffung des Ehegattensplittings, Auflösung familiären und nachbarschaftlichen Zusammenhalts: Auflösung von Solidargemeinschaften zeigt sich als Ziel des Neoliberalismus – eigentlich wäre von linker Seite nicht Applaus, sondern Protest zu erwarten.
Leibverachtung und Abtreibung
Der Kult der Häßlichkeit der 68er ist nicht ausgestorben (es gibt heute künstlich durchlöcherte Jeans, alle möglichen abschreckend wirkenden „Piercings“), er ist aber mittlerweile sehr reduziert (der neue Kult der Häßlichkeit mit gezupften Augenbrauen und „gestyleten“ Nägeln ist etwas anderes); die Mißachtung des Leiblichen aber bleibt bestehen. Dank modernster Medizintechnik hat sie heute mehr Raum denn je: heute spricht man von „Geschlechtsumwandlungen“, wenn ein Mensch durch chirurgische und medikamentöse Eingriffe dem Bild des anderen Geschlechtes angeglichen wird, so als könnte durch akzidentielle Eingriffe das wirkliche Geschlecht geändert werden (es ist Menschen schon schwerer Schade zugefügt worden, indem man bei phänotypisch intersexuellen Kindern vorschnell künstlich, chirurgisch das Geschlecht festzulegen versucht hat). Doch im Gehorsam gegenüber der „Political correctness“ ist nun solch „umgewandelten“ Menschen rechtlich das andere Geschlecht zuzuschreiben – eine letztlich leibfeindliche Unwahrheit.
Teure „Geschlechtsumwandlungen“ – die Nutznießer: große, zuallermeist privat betriebene Kliniken.
Abtreibungen in großer Zahl. Die Nutznießer: auch Praxen nichtchristlicher Ärzte, wiederum aber zuallermeist privat betriebene Kliniken 12.
Der Zug der Zeit ist eindeutig: marktliberale Ziele werden von der Rechten, wenn auch nicht ungebremst, so doch zügig immer weiter vorgetrieben; die Linke leistet dagegen nur ganz begrenzten Widerstand, setzt dagegen „politisch korrekte“ Ideen durch, wogegen sich die Rechte bestenfalls halbherzig wehrt. Warum auch? Zu einem großen Teil sind diese auch Ideen der liberalen Rechten.
Welche Rolle spielen die Linken in diesem Spiel? Eigentlich waren „nützliche Idioten“ ja eine Idee eines Linken, Wladimir Iljič Lenins.
Daß aber die politisch korrekten Forderungen zuerst von der Linken vorangetrieben werden, die Rechte sich ihnen nur eher gemächlich anpaßt, veranlaßt viele fromme Christen dazu, in der Linken den Feind zu sehen, den – scheinbaren! – Feind ihres Feindes, die Rechte, als Freund anzusehen, ihren Neoliberalismus zu verharmlosen oder gar als Alternative zum bolschewistischen Sozialismus längst vergangener Jahrzehnte gutzuheißen. Der Gewinner ist der Marktliberalismus.
Nolite conformari huic saeculo! (Rom. 12, 2)
Ich widersage dem Marktliberalismus und der „political correctness“ gleichermaßen.

2 mörderisch: ausführlich beschrieben von Mike Davis: Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World. London 2001. Deutsch: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter. Berlin 2004
4 Le Défi américain, Paris 1968. Deutsch: Die amerikanische Herausforderung, Hamburg 1968.
5 W.H.W: Politisch korrekter Unsinn / «Neger». Beider Botanisiertrommel; E&E 11 (2006), S. 22
6 Moderne Irrtümer und ihre Herkunft / Von Donatisten, Ikonoklasten und anderen Ketzern. Augsburg 2011, S. 67 ff.
7 die tageszeitung vom 5.8.2008
8 s.o., S. 71
9 die tageszeitung vom 7.8.2007
10 Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965
11 „Das Betreuungsgeld ist eine Männeridee“. Interview von Heide Oestreich mit Claudia Menne. die tageszeitung vom 6.12.2007
12 Thomas Baumann weist in „Moderne Irrtümer und ihre Herkunft“ darauf hin (S. 71ff.).

Orietur Occidens

Siehe auch:
• Die Revolution in L •

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