Wilfried Hasselberg

Die Revolution in L

Proœmium

Es war gegen 1980, daß ich diesen Text geschrieben habe. Vieles davon könnte heute so nicht mehr geschrieben werden. Wer die Phraseologie der damaligen Linken oder die Terminologie des real existierenden Sozialismus nicht kennengelernt hat, wird viele Anspielungen nicht verstehen. Andererseits bin ich damals noch vom altmodischen Kapitaleignerkapitalismus ausgegangen und habe nicht erwartet, daß die Bonzokratie des modernen Managerkapitalismus so getreulich jene des Funktionärssozialismus nachahmen werde.
Gültig ist der Text freilich nach wie vor, heute jedoch in entgegengesetzter Richtung zu lesen: während es damals darum ging, daß der Kommunismus eigentlich auch nichts anderes ist als der seinerzeit vielgeschmähte Monopolkapitalismus, ist heute bemerkenswert, wie weit der Konzernkapitalismus mit dem Parteikommunismus übereinstimmt.
W.H.W

• W.H.W: Ist der Kult des «Freien Marktes» Götzendienst? (E&E 8/03) •

DIE REVOLUTION IN L

(1.)

L war ein kapitalistisches Land – ein sehr kapitalistisches Land: der Großteil der Industrie des Landes war im Besitz der Herren X, Y und Z. Doch lange Zeit blühte die Wirtschaft des Landes, und es herrschte sozialer Friede. Schließlich aber geriet es in eine Wirtschaftskrise, die Produktion stagnierte, die Rendite stagnierte, die Zahl der Arbeitslosen stieg, und es begannen mehr und mehr soziale Unruhen.
Da lud Herr Z, der reichste der drei, die Herren X und Y zu sich. «Meine Herren, es gibt schwere Probleme für uns: Erstens stagnieren die Erträge unserer Unternehmen, zweitens gibt es immer noch viele Unternehmen, die nicht uns gehören, und drittens gibt es soziale Unruhen, die vielleicht selbst den gegenwärtigen Besitzstand gefährden. Eine Lösung dieser Probleme mit den bisherigen Mitteln scheint schwerlich möglich zu sein.»
Die Herren X und Y pflichteten ihm bei.
«Doch wenn wir unsere törichte Gewohnheit, einander Konkurrenz zu machen und uns untereinander Gewinne abzujagen, aufgeben und solidarisch uns für das gemeinsame Wohl unserer Firmen einsetzen, sehe ich eine Möglichkeit, mit einem Schlag alle Probleme zu beseitigen.»
Die Herren X und Y waren interessiert. «Meine Herren, wir alle haben uns bei den Auseinandersetzungen der letzten Zeit mit dem Marxismus und Leninismus beschäftigen müssen, und wir alle haben insgeheim eingesehen, daß diese Lehre rechtbehalten wird.»
Den Herren X und Y wurde etwas unbehaglich.
«Darum frage ich Sie, meine Herren, warum sollen wir uns auf die Seite stellen, die unterliegen muß, warum nicht auf die Seite des Fortschritts, die siegen wird, mit uns wie gegen uns?»
«Aber diese Seite kämpft doch gegen unsere Interessen», wandte Herr X ein.
«Das muß nicht so sein. Ich schlage ihnen vor: wir überführen unsere Vermögen in unser Gemeineigentum, gründen eine Kommunistische Partei und führen als Avantgarde des Proletariats eine Revolution durch, nach der wir alles Produktivvermögen des Landes zu Eigentum der Gesellschaft machen werden.»
«Wie stellen Sie sich das organisatorisch vor?» fragte Herr X, «eine KP GmbH & Co. KG?»
«Im Prinzip ja; jedoch dürfen wir uns nicht mehr der kapitalistischen Terminologie bedienen, sondern müssen die sozialistische benutzen. Darum wird die Firma einfach KPL heißen, und unsere Gesellschaft wird sich nicht GmbH nennen, sondern Politbureau des ZK der KPL. Es wird aber auch einige sachliche Unterschiede geben: die Mitglieder der Partei werden keine Dividende erhalten, sondern Beiträge zahlen, während wir statt einer Dividende Gehälter und Spesen er halten werden, wie es ja der Steuer wegen auch jetzt schon halten.»
Herr X wandte ein: «Beiträge zahlen statt Dividende zu erhalten: das ist doch unwirtschaftlich, dazu wird niemand bereit sein.
«Die Erfahrung lehrt das Gegenteil», antwortete Herr Z.
Und so entstand die KPL.

(2.)

Die neue Partei hatte von Anfang an große Erfolge. Da die Genossen X, Y und Z Beziehungen zu allen Gruppen des öffentlichen Lebens hatten und die Presse des Landes großenteils im Besitz der Partei war, strömten ihr von allen Seiten Mitglieder zu. Die meisten Arbeiter traten den neugegründeten Sozialistischen Gewerkschaften unter der Führung des Genossen Z jr. bei, zumal von den meisten Unternehmen des Landes – denen, die nun der KPL gehörten, die vergesellschaftet waren, wie man sagte – die Arbeiter, die keine Solidarität mit der eigenen Klasse zeigten und nicht beitraten, entlassen wurden.
Es gab aber unter den Linken des Landes einige wenige, die hinter den Erfolgen der KPL ein Komplott des Großkapitals argwöhnten; doch sie wurden wenig beachtet, da der Großteil der Presse sie ignorierte, sie auch keine einsichtigen Argumente hatten und Genosse Y sie schließlich in einer Streitschrift glänzend widerlegte: «Wir sind keine Kapitalisten, sondern, da wir unser gesamtes Eigentum der Partei überschrieben haben, besitzlose Berufsrevolutionäre. Daß wir aus dem Großbürgertum stammen, von dem wir uns losgesagt haben, haben wir mit Marx, Engels und Lenin gemein.»
Damit nicht um persönlicher Vorteile willen der revolutionäre Elan der Massen geschwächt würde, wurden in den Unternehmen der KPL Reformen der bürgerlichen Regierung rückgängig gemacht, so die Vierzig-Stunden-Woche, der bezahlte Urlaub, der Kündigungsschutz; die Löhne wurden gekürzt zugunsten der Partei, die ja die Interessen der Arbeiter vertrat. Gegen den Widerstand der revolutionären Organisation des Proletariats konnte die bürgerliche Regierung ihre Gesetze nicht mehr durchsetzen. Das Elend der Massen nahm zu, es kam zu Studentenunruhen, dann zu Arbeiterunruhen, dann begannen die Milizen der Sozialistischen Gewerkschaften – ihre Kader bildete der frühere Werkschutz der Betriebe der KPL, ihre Mannschaften deren Arbeiter – unter der Führung des Genossen Z jr. den Sturm auf den Staat. Militär und Polizei leisteten wenig Widerstand, denn viele ihrer Offiziere gehörten, seit jeher den Genossen X, Y und Z verbunden, der KPL an, viele Soldaten und Polizisten waren in den Sozialistischen Gewerkschaften der Armee und der Polizei organisiert, und viele schlossen sich daher deren Kampf an. Das verwirrte einige Arbeiter die, irregeleitet, sich gegen die fortschrittlichen Kräfte wandten und dabei natürlich umkamen; aber ihrer waren nicht viele. Und so konnte schließlich Genosse Y den siegreichen Massen über den Rundfunk nach dem Gesang der Internationalen verkünden:
«Die Revolution hat gesiegt, die Diktatur des Proletariats ist errichtet, die Kommunistische Partei hat die Macht ergriffen, der Sozialismus wird durchgeführt, alle Produktionsmittel werden vergesellschaftet!»

(3.)

Und so geschah es.
Genosse Z blieb Vorsitzender des Politbureaus und Generalsekretär des ZK, Genosse Y wurde Ministerpräsident, Genosse X Vorsitzender der VVL – der Volksdemokratischen Volksrepublik L, wie L nun hieß – und des Parlamentes; sie regierten das Land nach den Grundsätzen des demokratischen Zentralismus. Sie nahmen die Vertreter sozialistischer Organisationen, die ihren Beitrag zur Revolution geleistet hatten, ins Politbureau auf, dessen Ständigen Ausschuß sie zu dritt nun bildeten.
Die sozialistischen Staaten, die zuerst durch die Entwicklung der KPL verblüfft worden waren, auch Anstoß genommen hatten an einigen Äußerlichkeiten wie etwa daran, daß noch gelegentlich Genosse X von der Partei als «der Firma» gesprochen hatte, hatten bald erkannt, daß die Genossen X, Y und Z den Ideen des Marxismus-Leninismus in ihrer reinsten Form folgten; sie nahmen nun freudig die VVL in. die sozialistische Völkergemeinschaft auf, sie erkannten an, daß die KPL sich unbeirrbar zur Diktatur des Proletariats bekannte und die Genossen X, Y und Z vorbildlich den Grundsätzen der kollektiven Führung folgten; und der Genosse X sprach nur noch von «der Gesellschaft».
Leider erhob in der VVL bald die Reaktion ihr Haupt, innerhalb wie außerhalb der Partei; manche Individuen scheuten sich nicht, selbst den Ständigen Ausschuß des Politbureaus und seine Maßnahmen zu kritisieren. Diesen zersetzenden Aktivitäten trat der Ständige Ausschuß mutig entgegen; durch unbeirrbares Anwenden des demokratischen Zentralismus gelang es ihm, die Partei zu säubern und die Saboteure vernichten. Diesen Säuberungen mußten alle neuaufgenommenen Mitglieder des Politbureaus zum Opfer fallen, da sie sich den konterrevolutionären Umtrieben nicht entschieden widersetzt hatten. Dank der Tatkraft der Genossen X, Y und Z errangen schließlich die arbeitenden Massen einen vollständigen Sieg über den Klassenfeind nach den Prinzipien des Genossen Y, der erklärt hatte:
«Das Recht der Meinungsfreiheit ist uns heilig; aber die herrschende Klasse ist in der VVL das Proletariat, das Meinungen, die sich gegen die objektiven Interessen der sozialistischen Gesellschaft richten, nicht dulden darf. Wir werden alle Widersprüche in der gesellschaftlichen Ordnung auflösen; den Widersprechenden können wir dabei nicht schonen.»
Entgegen allen düsteren Voraussagen – laut geäußert in den kapitalistischen, insgeheim in den sozialistischen Ländern – blühte die Wirtschaft der VVL bald auf, denn die Genüssen X, Y und Z lenkten sie mit sicherer Hand – sie bewiesen nun mehr noch als vor der Revolution, daß sie hervorragende Wirtschaftsführer waren. Sie pflegten die neuen Beziehungen zu den sozialistischen Bruderländern ebenso wie, um der wirtschaftlichen Interessen der sozialistischen Gesellschaft willen, ihre alten Beziehungen zu den Großunternehmern der kapitalistischen Länder. Die soziale Lage der werktätigen Massen besserte sich wieder, die Vierzig-Stunden-Woche wurde wieder garantiert, es gab keine Lohnarbeit darüber hinaus mehr, nur noch von den Sozialistischen Gewerkschaften organisierte freiwillige Arbeit zur Übererfüllung des Plans; vor Kündigung war nun jeder geschützt, der sich unbeirrbar für die Interessen der sozialistischen Gesellschaft einsetzte. So war der Fünfjahresplan, den man anfangs – laut in den kapitalistischen, insgeheim in den sozialistischen Ländern – für unrealisierbar gehalten hatte, nach vier Jahren in jedem Punkt erfüllt, in den meisten Punkten übererfüllt. Diese wirtschaftlichen Erfolge bestätigten die Politik der KPL und ließen die letzten Kritiker verstummen.
Ein letztes Problem blieb für den Ständigen Ausschuß des Politbureaus: «Wir sollten», schlug Genosse X vor, «unsere Söhne ins Politbureau aufnehmen, schließlich müssen sich die Anteile an der Gesellschaft ja vererben..» – «So kann zur das in der sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht sagen», erwiderte Genosse Z; aber der gleiche Genosse Z erklärte, daß man ihre Söhne nicht ihrer Herkunft wegen diskriminieren dürfe, da sie alle sich doch als Minister, Marschälle, ZK-Sekretäre und Gewerkschaftsführer bewährt hätten und insbesondere sein Sohn, Genosse Z jr., ein verdienter Held der Revolution sei. Den Ausschlag gab, daß sich im Ständigen Ausschuß des Politbureaus eine klare Mehrheit für die Aufnahme der Söhne ins Politbureau abzeichnete, eine demokratische Willensbildung, der man sich nach den Grundsätzen des demokratischen Zentralismus nicht widersetzen durfte.
Am nächsten Tag verkündete Genosse Y den Massen über den Rundfunk nach dem Gesang der neuen Nationalhymne:
«Der Sozialismus ist erreicht. Wir sind nun auf dem Wege, den Kommunismus zu verwirklichen.»

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Siehe auch:
• Freie Marktwirtschaft: nicht sozial, aber «sozialistisch» •
• Staat und Konzern •
• Fortsetzung des Sozialismus mit anderen Mitteln •
• Marktwirtschaft auf den Spuren der Planwirtschaft •
• Die großen Industriestaaten auf den Spuren
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